Seite 55 - Fallersleben

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Aus der Geschichte einer alten Superintendentur
Johann Heine, damals Lehrer in Fallersleben, über-
lieferte in den Abrechnungen für die von ihm ver-
waltete Armenkasse
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eine beeindruckende Chronik
seiner Zeit. Er ließ sich von jedem Bettler, der um
Unterstützung bat, dessen Geschichte erzählen,
Zeugnisse vorweisen, und notierte alles: Menschen aus
ganz Deutschland und Europa – Österreicher, Russen,
Holländer, Norweger, Schotten, Franzosen, Italiener,
Polen, oft aus türkischer Gefangenschaft geflohen –,
zogen damals durch den Flecken, manche ihrer Kleider
beraubt.
Viele waren wegen ihrer Konfession vertrieben,
vielen Haus und Hof niedergebrannt worden. Deshalb
waren auch etliche Adlige unter den Bettlern. Es kamen
Menschen mit Verstümmelungen und Verbrennungen;
einige waren „in Irrung des Hauptes geraten“. Heine
nahm sich besonders der vertriebenen Pastoren und
Schulmeister sowie den Frauen und Kindern er-
mordeter Pastoren und Lehrer an, die in großer Zahl
durch Fallersleben zogen.
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Zu den Schäden an Kirchen und Schulen kamen
lange nachwirkende Folgen hinzu: Kaum jemand von
den in den Kriegsjahrzehnten Geborenen war je zur
Schule gegangen, der Analphabetismus zur Normali-
tät geworden.
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Um so wichtiger erschien die Katechis-
muslehre bei Erwachsenen und Kindern, damit die
Lehrsätze ins Gedächtnis gebracht wurden und dort
durch Wiederholung haften blieben.
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Doch hier traten
Probleme auf, denn die Erwachsenen erschienen nur
ungern und unter Zwang zur Katechismuslehre, „da
die großen und rüstigen Knechte und Mägde sich
schämten bei den kleinen und zarten Kindern sich hin-
stellen zu müssen, von denen sie zuweilen, wenn sie
es thaten, ausgelacht wurden, wie bei Rohde angemerkt
ist“.
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Der Analphabetismus bereitete auch der Einführung
eines neuen Gesangbuchs Schwierigkeiten. Als Ausweg
sangen die Pastoren den Küstern und Lehrern die
neuen Lieder vor, diese übten sie mit den Schulkindern,
die sie wiederum ihren Eltern und Großeltern zu Hause
beibringen sollten.
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Voraussetzung für die erneute Alphabetisierung der
Bevölkerung war die strikte Durchsetzung des Schul-
zwangs und der regelmäßigen Zahlung des Schulgeldes
an die Lehrer. „So klagte der Schullehrer in Fallers-
leben, daß er vor dreißig Jahren Kinder informirt hätte,
die schon wieder Kinder hätten, ihm aber das Schul-
geld von dreißig Jahren her noch schuldig wären“.
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Johann Heine, der 46 Jahre in Fallersleben unter-
richtete, war deshalb Hauptempfänger aus der Armen-
kasse der Fallersleber Kirche.
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Die Neuregelung
schaffte die wöchentliche Zahlung nach dem Schul-
besuch ab; die Eltern mussten nun pauschal für das
Winterhalbjahr im voraus zahlen, egal, ob die Kinder
zur Schule erschienen oder nicht.
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Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges
waren die Menschen kleinliche Streitereien zwischen
den Konfessionen leid, und eine größere Toleranz brach
sich Bahn.
Am Ende des Jahrhunderts holte das Fürstentum
viele Hugenotten, calvinistische Religionsflüchtlinge aus
Frankreich, ins Land und integrierte sie mit Erfolg. Ihre
Gemeinden entstanden u.a. in Celle, Lüneburg und
Helm­stedt.
Hugenotten nahmen viele wichtige Positionen bei
Hof und in der Verwaltung ein.
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Bettler und Vaganten in der Zeit des
Dreißigjährigen Krieges.