Seite 90 - Fallersleben

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Voller Tradition
Gilde anbelangt, war der ansiedlungswillige Meister
gehalten, „von der Obrigkeit des Orts, wo er sich bis­
her aufgehalten, ein Attestatum beizubringen, daß er
von einem dazu privilegierten Sattler- oder Seiler-Amt,
in einer Stadt, wo dergleichen befindet, vermittelst An­
fertigung eines Meisterstücks, zum Meister gemacht
und erklärt worden.“ Weiterhin war vom Neuankömm­
ling eine Erklärung beizubringen, wonach er am frühe­
ren Ort als verständiger Meister Reputation erlangt
hatte. Über die Zahl der gehaltenen Gesellen enthielt
der Gildebrief ebenfalls bestimmte Aussagen. Im Falle
des Ablebens eines am Ort tätigen Meisters waren an­
gehende Meister „nicht schuldig, eines Meisters Witwe
oder Tochter zu heyraten.“ Wörtlich heißt es dazu: „Soll
die, bey einigen Gilden hergebrachte Obser­vanz, daß
keiner in das Amt zu recipieren, er heyrate denn eines
Meisters Witwe oder Tochter, gänzlich damit auf­
gehoben und annuliert seyn.“
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Von Bedeutung war für die Qualifikation eines
Meisters die Absolvierung von Wanderjahren. „Soll
kein Geselle zum Meister zugelassen werden, er möge
denn beweisen, daß er auch das Handwerk zwey Jahre
lang gewandert, und dasselbe rechtschaffen zu ge­
brauchen gelernet.“ Diese strenge Anforderung konnte
allerdings durch die Möglichkeit der Dispensation
durch die Obrigkeit, namentlich die fürstlichen Ver­
waltungsbehörden, ausgesetzt werden. Die Lehrzeit im
Handwerksberuf wurde auf „wenigstens drey Jahre“
festgelegt. In Gegenwart der Amtsmeister und Gesellen
sollte der erfolgreiche Lehrling losgesprochen werden.
Pflichten und Anstandsregeln der Gesellen enthielten
weitere Passagen des Gildebriefs: „Was die also los­
gesprochenen und von anderen Orten herkommenden
Gesellen betrifft, sollen sich dieselben gegen ihre
Meister geziemter Bescheidenheit befleißigen, auch
ihre Arbeit mit gehörigem Fleiß und Treue verfertigen;
maßen denn, die dagegen bishero eingetretenen Miss­
bräuche und Unordnungen, so viel wie immer möglich,
abgeschaffet, in specie aber denen Gesellen die also
genannten Krugtage, freye Montage, Fast-Nachts und
andere dergleichen liederlich, und nur zum ledigen
Gesöf angesehene Gelage nach eigenem Befinden“ von
den Meistern verhindert werden.
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Als wichtiges Relikt
der Verfassung der Gilde diente die sogenannte Meister-
Lade. In ihr wurde unter anderem das „corpus bono­
rum“, ein Güterverzeichnis der Gilde, und der mit
Ämtern geführte Schriftwechsel aufbewahrt. Weiterhin
enthielt die Lade Geld zur Unterhaltung von kranken
und armen Meistern und Gesellen.
Die meisten der Fallersleber Gilden hatten keine Zu­
gangsbeschränkung, waren demzufolge offen für Neu­
zugänge und nahmen auch Landmeister der um­
gebenden hannoverschen Dörfer auf. Zu den wenigen
beschränkten Gilden zählten die Drechsler, bei denen
1817 die Aufnahme neuer Meister ausgesetzt wurde, bis
die Zahl sieben unterschritten wurde. Nach einem Be­
richt des Amtes Fallersleben vom 17. Januar 1817 zogen
die Drechsler „ihre Nahrung allein aus einem Theile der
Stadt und dem Boldecker Lande.“
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Der Absatz der
Drechsler bestand fast einzig in Spinnrädern für die
Garnproduktion. Bei der Begrenzung der Zahl der
Drechslermeister auf sieben blieb ohne Berücksichtigung
die Zahl von Söhnen und Schwiegersöhnen der Hand­
werksmeister, sofern sie im selben Hause wohnten und
das Handwerk gemeinschaftlich mit ihrem Vater bzw.
Schwiegervater versahen. Das Amt setzte allerdings den
Vorbehalt, bei künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen
die Anzahl der Drechsler wieder zu vermehren oder jeg­
liche Beschrän­kung ganz aufzuheben.
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Die Drechsler und Tischler erhielten einen ge­
meinsamen Gildebrief, agierten allerdings faktisch als
zwei selbstständige Gilden. Ähnlich verhielt es sich mit
den Sattlern und Seilern. Typisch für den Abstand
zwischen Stadt und Land, wenn man denn Fallersleben
schon als stadtähnliche Gemeinde ansieht, war die
Struktur der Rademacher- und Stellmacher-Gilde, denn
den zwei Fallersleber Meistern standen 1825 fünfzehn
Landmeister gegenüber, die freien Zugang zur Fallers­
leber Gilde besaßen.
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Dies verwundert nicht, hatte
doch praktisch jedes Dorf auch Bedarf an einem Stell­
macher zur Herstellung und Reparatur landwirtschaft­
licher Wagen und Geräte.