Seite 10 - Herzog_Heinrich

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Vor Leerort – 23. Juni 1514
Endlose Deiche, schilfbedeckte Sümpfe – so weit das
Auge reicht. Die eintönig flache, weithin karge ostfriesi-
sche Landschaft unter dem Dollart ist von geringem
Reiz, selbst im Sommer. Wenigstens wölbt sich heute ein
heiterer Himmel über dem Emsland. Am Unterlauf des
Stromes glänzt im Sonnenschein das schmucke Städt-
chen Leer. Behäbige Bürgersitze rings um Rathaus und
Kirche, stattliche Speicher und Verladerampen unmittelbar an der Wasserstra-
ße zeugen von Wohlstand. Vor der Habgier ungebetener Gäste bewahrt ihn
gen Osten der Nebenfluss Leda, nach Süden dessen Einmündung in die Ems.
Der Abschreckung von Eindringlingen dient Leerort, eine am anderen Ufer
der Leda hoch über die Deiche ragende Trutzburg.
Ein herrlicher Tag zu gottgefälligem Tun! Wenn nur nicht auf Ostfriesland der
Fluch des Kaisers lastete; die Heimsuchung durch seine Handlanger, jene
fremden Fürsten mit ihrer Streitmacht – –
Was für ein wunderschöner Morgen auch für den angerückten feindlichen
Heerhaufen – wie geschaffen zum Sturm auf die Wehranlage! Warum erst
lange belagern, was zur raschen Eroberung einlädt? Umso schneller kann man
übersetzen, sich des hübschen Städtchens bemächtigen – satter Beute, praller
Weiber gewiss; und Truhen voll blanker Gulden!
Eine jener seltenen Gelegenheiten zur Räuberei, mit allerhöchstem Segen. Wel-
cher dem Kaiser treue Edelmann im norddeutschen Raum ließe sie ungenutzt
verstreichen, seitdem ein strenges Reichsregiment die einträglichen Pfründe
aus angestammtem Raubrittertum zum Versiegen brachte? Das Hausgut weit-
gehend verpfändet, die Kosten standesgemäßer Hofhaltung beharrlich stei-
gend, die Schuldenlast erdrückend, ist jeder Anlass willkommen, auf erlaubte
Weise sein Säckel zu füllen.
Hatte doch Kaiser Maximilian I. im Namen des Heiligen Römischen Reiches
die Reichsacht verhängt über Edzard, den Grafen von Ostfriesland. Dieser war
zum Freiwild erklärt worden, weil er nicht wahrhaben wollte, dass Seine Kai-
serliche Majestät die Erbstatthalterschaft über Friesland dem Herzog Georg
dem Bärtigen von Sachsen im fernen Meißen zuerkannt hatte. Einem Bruder
des sächsischen Kurfürsten! Wenn schon – Edzard verweigerte die Anerken-
nung, nahm seine Ächtung trotzig in Kauf.
Grund genug also für etliche Reichsstände – weltliche wie geistliche, insge-
samt vierundzwanzig an der Zahl – mit dem Sachsen gemeinsame Sache zu
machen; unter ihnen Graf Johann von Oldenburg, Erzbischof Christoph von
Bremen, dessen stets fehdelustiger Vater Herzog Heinrich von Wolfenbüttel,