Seite 55 - Kirchenbuch

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Di e Braunschwe i g i sche Landesk i rche im 19. Jahr hunder t
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eigene Verfassung überdenken. Einer Antwort auf die „soziale Frage“ durfte sie nicht
ausweichen. Vor allem aber forderten die seit dem 18. Jahrhundert einsetzende, be-
schleunigende und immer größere Teile der Gesellschaft erreichende Säkularisierung
und die verschärfte (naturwissenschaftliche) Religionskritik nicht nur, aber vor allem
das organisierte Christentum, die Kirchen, heraus, die Aussagen der biblischen Bot-
schaft zu überprüfen und nach neuen Wegen ihrer Verkündigung zu suchen. Dabei
fielen die Antworten nicht nur der drei großen Konfessionen, Katholiken, Lutheraner,
Reformierte, unterschiedlich aus, auch innerhalb ihrer Lager entstanden unterschied-
liche Gruppierungen mit unterschiedlichen Fragen, Antworten und Konzepten auf
die sich stellenden Probleme. Das gilt auch für die aufkommenden neuen religiösen
Bewegungen (Erweckung, Neokonfessionalismus) und den Aufbau kirchlicher Ver-
einsstrukturen. Auf die Komplexität und Problematik dieser Prozesse mit ihren Dis-
kussionen und Entwicklungen religiöser Wertvorstellungen, Gewohnheiten und Ver-
haltensweisen sei am Rande verwiesen.
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Die Kirchengeschichte kann, das soll hier
gezeigt werden, nicht losgelöst von der Profangeschichte betrachtet werden, sie war
und ist eingebettet in die allgemeinen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi-
schen Entwicklungen.
IM KÖNIGREICH WESTFALEN
Der Sieg des französischen Bürgertums in der Revolution 1789 ließ die Konturen einer
radikalen Variante des republikanisch-bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsmodells
erkennen: neben der Aufhebung feudal-adliger Strukturen, der Einführung der Han-
dels- und Gewerbefreiheit und der Institutionalisierung eines Verfassungs- und Rechts-
staates die Trennung von Staat und Kirche sowie die Säkularisierung von Kirchenbe-
sitz. Schließlich brachte die kleinbürgerlich-radikaldemokratische Diktatur der
Jakobiner, die in blutigem Terror endete, die Revolution auch unter ihren Sympathi-
santen in ganz Europa in Misskredit. Seit dem Sturm auf die Bastille, also der franzö-
sischen Revolution von 1789, erschütterte insbesondere die jakobinische Politik der
Dechristianisierung der Gesellschaft und der „kultischen Verehrung der Vernunft“
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nicht nur die protestantischen Vorstellungen einer von Gott gesetzten monarchischen
Obrigkeit, sondern schien darüber hinaus das Christentum und die (Staats-)Kirchen
existenziell zu bedrohen.
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Die Unterwerfung Europas durch Napoleon Bonaparte (1769-1821) bedeutete nicht
nur die Neuordnung der territorialen Verhältnisse, sondern auch den Export des fran-
zösischen Staats- und Gesellschaftsmodells in die besetzten und von Frankreich ab-
hängigen deutschen Territorien.
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Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Rei-
ches Deutscher Nation verlor das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, 1807
weitgehend im Okerdepartement des Königreichs Westfalen aufgegangen, seine