Seite 47 - Zwangsarbeit

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5. Erinnerungen
5.1. „In meinen besten Lebensjahren musste ich leben und arbeiten wie ein
heimatloser Sklave“ – Lebensgeschichtliche Erinnerungen ehemaliger
polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiter
Joachim Schmid
„Der Aufenthalt in Deutschland hatte meine ganze Lebensplanung zunichte gemacht.
Ich war gerade mit der Grundschule fertig und wollte weiterlernen. Als dann 1939 der
Krieg kam, musste ich Schützengräben ausheben. Anschließend die Zwangsarbeit. In
meinen besten Lebensjahren musste ich leben und arbeiten wie ein heimatloser Sklave.“
– „Ich denke ungern an diese Zeiten zurück. Ich musste meine Heimat, meine Familie
verlassen. Man nahm mir meine Freiheit und meine Gesundheit. Meine Psyche ist durch
die damaligen Erlebnisse bis heute krank.“ Mit diesen Worten beenden die polnischen
Staatsangehörigen Antoni Owczarek und Florentyna Nowik ihre Erinnerungen an die
Zwangsarbeit für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft. Sie waren zwei von mindes-
tens 110.000 Ausländern, darunter zum geringeren Teil Kriegsgefangene, die bis zum
Höhepunkt des ‚Arbeitseinsatzes’ im Herbst 1944 in das Land Braunschweig verschleppt
worden waren. Das Hauptkontingent der zivilen Arbeitskräfte bildeten mit 31.000 die
Ostarbeiter aus der Sowjetunion, gefolgt von 22.500 Polen
1
.
Die folgende Darstellung beruht auf einer Auswertung von 180 Fragebögen
2
. Der
Kontakt zu noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern wurde durch die Adressenver-
mittlung des Arbeitsamtes und der Allgemeinen Ortskrankenkasse Braunschweig mög-
lich, die von Betroffenen um Bestätigung ihres Arbeitseinsatzes in Deutschland ersucht
worden waren. Weitere ehemalige Zwangsarbeiter konnten durch Aufrufe in Zeitungen
und sonstige schriftliche Anfragen erreicht werden. An die so Ermittelten wurden Fra-
gebogen verschickt, die in thematische Abschnitte gegliederte Fragen nach der Art und
Weise des Transports nach Deutschland enthielten, nach den Arbeitsbedingungen, den
persönlichen Beziehungen zu den Arbeitgebern, der Unterbringung und Versorgung,
dem Lagerleben, dem Kontakt mit der deutschen Bevölkerung, der Befreiung und Rück-
1
Zu diesem Zeitpunkt meldeten die Arbeitsämter in den Bezirken Watenstedt-Salzgitter, Braunschweig und
Helmstedt ca. 91.000 Zivilarbeiter, darunter 25.300 Frauen, ca. 31.000 Ostarbeiter und 22.500 Polen. Hinzu
kamen 21.000 Kriegsgefangene. Nach Hans-Ulrich
Ludewig
, Das Land Braunschweig im Dritten Reich
(1933-1945). In: Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region, hg. v. Horst-
Rüdiger
Jarck
u. Gerhard
Schildt
. Braunschweig 2000, S. 981 – 1024, hier S. 1021. Vgl. das Vorwort (zur
Definition des Begriffes ‚Ostarbeiter’) sowie Kap. 1.1. und Kap. 2.1.
2
Die Fragebogenaktion wurde von Jerzy Drewnowski zunächst seit November 1994 im Rahmen eines Projek-
tes der Lessing-Akademie, Wolfenbüttel, seit 1997 im Rahmen des dieser Veröffentlichung zugrunde liegenden
Forschungsprojektes bis zu seinem Ausscheiden 1998 durchgeführt. Bisher sind nur wenige Fragebögen unter
eher ethisch-philosophischen Gesichtspunkten ausgewertet worden. Vgl. dazu J.
Drewnowski
, Erinnerungen
an das Wolfenbütteler Reichsbahnlager. In: Heimatbuch für den Landkreis Wolfenbüttel 42, 1996, S. 16-24;
J.
Drewnowski
, „Jene schöne Zeit auf dem Bauernhof“. Erinnerungen polnischer Zeitzeugen an ihre Zwangs-
arbeit in der Region Wolfenbüttel (1939-1945). In: Braunschweigisches Jahrbuch 79, 1998, S. 217-229.