Seite 117 - Fallersleben

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Vom Kriegsende ins Wirtschaftswunder
und Kriegsgefangene, von den Alliierten „Displaced
Persons“ (DPs) genannt, strömten aus anderen Orten
nach Fallersleben.
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Sie wurden zunächst je nach Na­
tio­nalität in Lagern zusammengefasst, die jetzt aller­
dings nicht mehr unter Bewachung standen, und
mussten von der deutschen Verwaltung mit Lebensmit­
teln, Kleidung und Einrichtungsgegenständen versorgt
werden. „Form committees of national groups – let
them run their own show with your supervision“
(„Bilden Sie für jede Nationalität eigene Ausschüsse –
lassen Sie diese ihre Angelegenheiten unter Ihrer Auf­
sicht selbst regeln“), lautete ein Befehl der britischen
Militärregierung an ihre nachgeordneten Dienststel­
len.
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In Fallersleben dienten zunächst der Saal des
Hoffmannhauses, die ehemalige RAD-Kaserne und die
Schule als Sammelunterkünfte. Bald vertrieben von
auswärts kommende DPs die Wirtsfamilie des Hoff­
mannhauses und nahmen das gesamte Gebäude in Be­
sitz. Verpflegt wurden alle auf amerikanischen Befehl
hin in der Volksküche, für die die deutsche Verwaltung
mit großen Mühen ausreichende Mengen an – wie in
den letzten Kriegsjahren weiterhin streng rationierten
– Lebensmitteln heranschaffen musste.
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Die Volks­
küche war eine Baracke an der Hoffmannstraße, in der
das VW-Werk während des Kriegs die Arbeiter seiner
nach Fallersleben ausgelagerten Produktionsstätten
verköstigt hatte und die dann die Stadt übernahm und
– neben dem Kindergarten – als einzige städtische
soziale Einrichtung weiterführte.
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Befehlsgemäß nahmen die DPs ihre Angelegenheit
selbst in die Hand … „Wie in vielen anderen Ge­
meinden, so sind auch in der Gemeinde Sülfeld seit der
Besetzung unhaltbare Zustände eingetreten“, klagte
der dortige Bürgermeister dem amerikanischen Stadt­
kommandanten in Fallersleben Ende April. Auf einem
Hof seines Dorfes schlachteten Serben bzw. Russen
innerhalb einer Woche fünf Schweine ab; bei dreien
dieser Überfälle waren Amerikaner zugegen. „Es ver­
geht keine Nacht, wo Russen und Polen in Begleitung
von amerikanischem Militär plündern. Es werden in
der Hauptsache Radios, Gold und Silber und Lebens­
mittel entwendet.“
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Die Besatzungstruppen verzeichneten in einem
„Trouble Report“ Eigentumsdelikte, die teils sicher, teils
höchstvermutlich DPs begangen hatten. 32 Vergehen
listete das Verzeichnis für die Zeit vom 19. bis zum
29. Juni 1945 in den rund um die Stadt gelegenen
Dörfern auf, zumeist Raub und Diebstahl von Groß-, Klein-
und Federvieh, Fahrrädern und Kleidung. In einem Fall
war „Attempt of murder – use of fire arms“ („Mordver­
such – Gebrauch von Feuerwaffen“) vermerkt. Die Stadt
selber taucht in diesemVerzeichnis nicht auf,
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doch auch
hier gab es erhebliche Plünderungen.
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Um die Vorräte
der Volksküche zu schützen, stellte die Stadtverwaltung
ab Mitte Mai 1945 jeweils zwei Bürger als Nachtwache
ab. Der Bürgermeister und die Militärregie­rung verein­
barten als Warnzeichen „bei Aufruhr der Aus­länder“
sogar ein eigenes Signal für die Feuerwehrsirene.
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Die Plünderungen gingen aber nicht nur auf das
Konto der DPs, dazu war die Notlage der einheimischen
Bevölkerung und der Flüchtlinge viel zu groß. Nicht
grundlos verkündeten Aushänge des amerikanischen
Kommandanten für Stadt und Kreis Gifhorn auf Deutsch,
Englisch, Russisch und Polnisch, dass der Diebstahl von
Lebensmitteln und Kleidung oder das Schwarz­
schlachten mit „strenger Freiheitsstrafe“ geahndet
würde. Bei anderer Gelegenheit wurde „die Einwohner­
schaft (…) hiermit gewarnt, vom Hafen eigenmächtig
Möbelstücke abzuholen. Die Einrich­tungs­gegenstände
sind stark verwanzt und dürfen in diesem Zustand nicht
in die Häuser gebracht werden.“
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Unmittelbar nach ihrem Einmarsch bemühten sich
die Besatzungsmächte, die Displaced Persons in ihre
Heimatländer zurückzuführen.
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Allerdings zogen sich
ihre Bemühungen bis in den Herbst 1945 hinein hin.
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Eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland er­
hielten lediglich Personen, die bereits vor 1939 hier ge­
lebt hatten
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– und der ehemalige jugoslawische
Zwangsarbeiter Nebojscha Popow, der eine Einhei­
mische heiratete und später den Betrieb seines Schwie­
gervaters übernahm.
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