Seite 92 - Fallersleben

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Die Süße der Industriegesellschaft
MANFRED GRIEGER
Die neue Zeit hatte einen zuckersüßen Geschmack. Die
Erste Industrielle Revolution, die mit dem Eisenbahn­
bau insbesondere der Eisen- und Stahlindustrie
intensive Wachstumsimpulse gegeben hatte, brachte
auch einen Wandel der Konsummöglichkeiten und der
Ernährungsgewohnheiten. Stammte Zucker im 18. Jahr­
hundert im Wesentlichen noch als Importgut aus der
Karibik,
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bot die Zuckerrübe zu Beginn des 19. Jahr­
hunderts den deutschen Ländern die Chance zur Im­
portsubstitution. In der Hochindustrialisierung ver­
band sich mit der neuen Kulturpflanze sogar die
Aussicht auf eine Ausrichtung der Landwirtschaft auf
den Weltmarkt.
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Die 1871 erfolgte Inbetriebnahme der Eisenbahn­
strecke Lehrte-Berlin gab Fallersleben zwar Anschluss
an die dynamisch wachsenden Industriezentren, jedoch
überwand Fallersleben im Gegensatz zu zahllosen
Orten Deutschlands, an denen sich innerhalb kurzer
Frist die industrielle Wirtschaftsweise etablierte, erst
verspätet den lokalen Traditionalismus.
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Ausgangs­
punkt der ökonomischen Innovation bildete dabei
konsequenterweise die regionale Landwirtschaft, die
dann über mehr als ein Jahrhundert der industriellen
Zuckererzeugung in Fallersleben die Rohstoffbasis
sichern sollte. Die Zuckerrübe bot gerade auch Guts­
wirtschaften neue Renditechancen, so dass sich dem
entstehenden agrarindustriellen Komplex angesichts
des weiterhin wachsenden Zuckerkonsums in Deutsch­
land und des beginnenden Exports sichere Absatz­
märkte eröffneten. Zusammen mit den Dividenden­
zahlungen aus den gehaltenen Aktien boten der
Zuckerrübenanbau und die industrielle Zuckerpro­
duktion attraktive Renditen des eingesetzten Kapitals.
Die Zuckerfabrik Fallersleben gehörte allerdings zu
den Spätstartern: Obgleich in dem für den Zuckerrüben­
anbau günstigen Braunschweiger Land bereits 1849 in
Üfingen sowie 1850 in Königslutter und Söllingen erste
Zuckerfabriken entstanden waren, und in der Region
Hannover die erste moderne Zuckerfabrik 1857 in Ein­
beck in Betrieb ging, behielten in Fallersleben angesichts
des Kapitalmangels und mit Blick auf die nicht von der
Hand zu weisenden Risiken die Skeptiker die Meinungs­
führerschaft. Zwei Versuche zur Errichtung einer
Zuckerfabrik in Fallersleben scheiterten in den Jahren
1858 und 1868. Da bis zur Reichsgründung 1871 neun
weitere Anlagen in Baddeckenstedt, Clauen, Gehrden,
Gronau, Groß-Lafferde, Nordstemmen, Peine, Ringel­
heim und Schladen entstanden waren, die in der
Kampagne 1871/72 immerhin knapp 2 Million Zentner
Rüben verarbeiteten,
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lud der Ökonomierat und Guts­
verwalter Carl Lehste aus Wettmershagen am 23. Fe­
bruar 1878 mit Blick auf die durch die Eisenbahnstrecke
stark verbesserte Verkehrsanbindung Interes­senten in
das Bilitzsche Gasthaus nach Fallersleben ein. Durch
Einzahlung von jeweils 1.000 Mark je Aktie sollte eine
Aktiengesellschaft gegründet werden, die im § 1 des
Statuts als Unternehmenszweck „Anlage und Betrieb
einer Rüben-Zuckerfabrik zu Fallersleben“ festlegte.
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Mit
der Zeichnung einer Aktie verpflichtete sich der Käufer
zum Rübenanbau auf einer Fläche von drei Hanno­
verschen Morgen, die 0,7863 Hektar entsprachen.
Aus dem Umstand, dass zunächst nur 57 Landwirte
insgesamt 167 Aktien erstanden, kann abgelesen
werden, wie weit das Vorhaben von seinem ursprüng­
lichen Ziel der Gründung einer Aktien-Zuckerfabrik mit
einem Stammkapital von 600.000 Mark entfernt blieb.
Beim zweiten Anlauf, der am 10. Dezember 1878 die
Einstiegsbedingungen erleichterte, indem nunmehr je
Aktie 750 Mark einzuzahlen waren und der Vertrags­
anbau auf zwei Hannoversche Morgen, also etwas
mehr als einen halben Hektar beschränkt wurde,
zeichneten 135 Landwirte 303 Aktien.
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Erst in der
dritten Versammlung, die am 27. Februar 1879 unter
dem Vorsitz des Rittergutsbesitzer und Landschaftsrats
Die Süße der Industriegesellschaft: Die Fallersleber Zuckerfabrik 1879 – 1995