Seite 98 - Fallersleben

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Auf der Schiene und zu Wasser
WERNER STRAUSS
Die Eisenbahnstrecke Berlin – Lehrte
Eng verwoben mit der Geschichte der Industrialisierung
ist die Entwicklung der Eisenbahn und ihr Ausbau zu
einem vernetzten Verkehrssystem, das über große Ent­
fernungen Güter und Personen kostengünstig und
schnell transportieren konnte. Auf dem Gebiet des
heutigen Niedersachsen fuhr 1838 die erste Eisenbahn
als Staatsbahn zwischen Braunschweig und Wolfen­
büttel. König Ernst August von Hannover verhielt sich
relativ reserviert gegenüber der verkehrstechnischen
Neuerung. Von ihm ist der Ausspruch überliefert,
wonach er nicht wolle, dass jeder Schusterjunge genau
so schnell über Land reisen könne wie er.
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Seine
Residenz in Hannover versuchte er anfangs gegenüber
der Betriebsamkeit des Schienenverkehrs abzuschotten,
indem die Anschlussstrecken für die Hauptlinien zu­
nächst in Lehrte und Wunstorf endeten. Trotzdem
setzte die Eisenbahn in hannoverschen Landen zu
ihrem Siegeszug wie in den benachbarten Ländern an.
1866 umfasste das hannoversche Eisenbahn-Strecken­
netz bereits rund 900 Kilometer Schienenlänge.
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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden neben
Staatsbahnen zahlreiche private Eisenbahn-Gesell­
schaften gegründet, so auch 1841 die Magdeburg-
Halberstädter-Eisenbahn-Gesellschaft als Aktiengesell­
schaft. Von der preußischen Regierung erging 1863 der
Planungsauftrag für eine kürzere Eisenbahnverbindung
zwischen Berlin und den westlichen preußischen
Provinzen an ein Fachkomitee.
3
In den ersten Über­
legungen war eine Streckenführung von Berlin über
Rathenow, Tangermünde und Stendal nach Braun­
schweig beabsichtigt. Verhandlungen der Staatsregie­
rungen von Preußen, Hannover und Braunschweig
über diese Variante führten zu keinem greifbaren Er­
gebnis. Deshalb wurde bald von preußischer Seite eine
Streckenführung als Direktverbindung von Berlin über
Stendal und Oebisfelde favorisiert. Selbst der
preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck und
der preußische Generalstabschef Helmut von Moltke,
Vertreter militärstrategischer Beweggründe, sprachen
sich 1865 für diese Verbindung aus. Mit der Annexion
des Königreichs Hannover als preußische Provinz ent­
fiel ein entschiedener Gegner dieser Streckenführung.
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Die schon oben erwähnte Magdeburg-Halberstädter-
Eisenbahn-Gesellschaft erhielt 1867 die Konzession
zum Bau der Eisenbahn-Direktverbindung von Berlin
nach Lehrte. Maßgabe für die Projektierung der Strecke
war ein möglichst gerader Verlauf von Berlin über
Spandau, Rathenow, Stendal und Gardelegen nach
Oebisfelde, das sich später zum Eisenbahn-Knoten­
punkt entwickeln sollte. Zwischen Oebisfelde und
Vorsfelde waren ungefähr zehn Kilometer braun­
schweigisches Gebiet zu durchqueren. Die dafür not­
wendige Rechtsgrundlage wurde durch einen ent­
sprechenden Staatsvertrag der beteiligten Länder
geschaffen.
5
Auf früher hannoverschem, nunmehr
preußischem Gebiet, führte die Trasse durch die Amts­
bezirke Fallersleben, Gifhorn und Meinersen in
Richtung Lehrte. Für diesen Abschnitt bis Lehrte war
die Auswahl unter vier unterschiedlichen Varianten
möglich, von denen nach Abwägung aller Interessen
der Linie „Süd 1“ über Fallersleben schließlich der Vor­
zug gegeben wurde. Dies entsprach auch der Vorgabe
der Preußischen Regierung, die unbedingt eine mög­
lichst gerade Streckenführung zwischen Vorsfelde und
Lehrte nahe Fallersleben, Gifhorn und Meinersen
forderte.
6
Der Flecken Fallersleben, formal schon Stadt­
gemeinde genannt und vertreten durch den Magistrat,
erklärte sich unter Vorbehalt der Südlinienführung
schon Ende Dezember 1866 bereit, den sich ab­
zeichnenden Bahnbau mit einer Beihilfe von 5.000
Talern zu unterstützen. Außerdem war die Zahlung der
Auf der Schiene und zu Wasser: Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur im Industriezeitalter