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Vorwort
Diese Veröffentlichung ist das Ergebnis einer mehr als 15-jährigen Spurensuche. Ausge-
löst hat mein Interesse am Schicksal der jüdischen Wolfenbütteler das Buch Werner
Ilbergs „Die Fahne der Witwe Grasbach“. In dem Roman beschreibt der aus einer jüdi-
schen Wolfenbütteler Kaufmannsfamilie stammende Autor die politische Stimmung vor
dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Wolfenbüttel. Meine For-
schungen zu seiner Familie führten zu Einblicken in andere jüdische Familien. Aus
einer verborgenen Wurzel entwickelte sich allmählich ein Baum mit immer mehr Ver-
ästelungen: Die jüdische Gemeinschaft der Lessingstadt in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts.
Ich wollte kein wissenschaftliches Werk schaffen, mein Interesse war, das Schicksal
der Menschen kennen zu lernen, deren Leben von der mühsam errungenen Emanzipa-
tion des 19. Jahrhunderts in den Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg führte, bis
zur kulturellen und physischen Vernichtung während der Diktatur der deutschen Natio-
nalsozialisten. Neben der Berücksichtigung von Archivdokumenten habe ich großen
Wert auf mündliche und schriftliche Berichte von Wolfenbütteler Zeitzeugen, von Über-
lebenden und Angehörigen jüdischer Wolfenbütteler gelegt. Meine Kontakte folgten
dem Schicksal der Gef lüchteten in viele Teile der Welt.
Mich erstaunt immer noch, wie sehr sich ältere Wolfenbütteler an frühere jüdische
Nachbarn, Mitschülerinnen und Mitschüler oder Kauf leute erinnern können. Nicht
immer ist es mir gelungen, alle ihre Lebens- und Todesdaten zu erhalten. Aus Gründen
der Pietät habe ich davon abgesehen, nachdrücklich danach zu fragen. Ich bin mir
bewusst, dass dieses Buch, wenn subjektiv erinnerte Erlebnisse geschildert werden,
Ungenauigkeiten enthalten kann. Ich bitte diejenigen, die sie erkennen, mich zu infor-
mieren.
Dieses Buch soll die Erinnerungsarbeit in Wolfenbüttel ergänzen und das Gedenken
fördern. Viele Schicksale bleiben ungeklärt. Mit der Veröffentlichung dieser Aufzeich-
nungen verbinde ich die Hoffnung, dass sie die Grundlage für weitere Forschungen und
Publikationen bilden. Im März 2005 vertrat Stephan Kramer, Generalsekretär des Zen-
tralrats der Juden in Deutschland, in der Herzog August Bibliothek die Ansicht, es sei
ein großer Fehler, den Holocaust als das zentrale Element des jüdischen Lebens in
Deutschland darzustellen. Diese Betrachtungsweise war eine Grundlage meiner Spuren-
suche.
Weil in dieser Publikation Menschen – und nicht eng begrenzte historische Abläufe
– im Vordergrund stehen sollten, beschränkt sie sich nicht nur auf den Zeitraum zwi-
schen 1933 und 1945. Die verfolgten Menschen haben auch vorher gelebt und die dem
Mord entkommenen Flüchtlinge oft auch mühselig nach 1945.
Die ältere Zeit der Wolfenbütteler jüdischen Geschichte ab dem 17. Jahrhundert
dokumentiere ich komprimiert aus bereits veröffentlichten Forschungsarbeiten in einer
Zusammenfassung. Einige Ereignisse und Schicksale, die bereits in anderen Publikatio-
nen beschrieben sind, erwähne ich nur kurz. Sie können in der angegebenen Literatur
nachgelesen werden.