Seite 30 - Juedische_Familien

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Aufkommender Antisemitismus
Im 19. Jahrhundert erhielten die Juden im Herzogtum Braunschweig (formal) die recht-
liche und soziale Gleichstellung, um die sie dennoch weiter kämpfen mussten. Gleich-
zeitig wuchsen Aktivitäten judenfeindlicher Deutscher, aus denen sich der rassisch
begründete Antisemitismus entwickelte. Lokalzeitungen der 1880er und 1890er Jahre
enthalten immer wieder Hinweise zu Veranstaltungen antisemitischer Organisationen.
Die Wolfenbütteler Einwohner informierten sich hauptsächlich durch das Wolfenbüt-
teler Kreisblatt
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. Die Redaktion war den Juden wohlgesinnt. Am 22. November 1880
berichtete die Zeitung ausführlich über antisemitische Aktivitäten des Berliner Hofpre-
digers Adolf Stoecker. Der 1835 in Halberstadt Geborene hatte 1878 die „Christlich-so-
ziale Arbeiterpartei“ mit dem Ziel gegründet, Arbeiter und Handwerker der Sozialde-
mokratie abzuwerben.
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Das misslang. Dafür folgten ihm Mitglieder des wirtschaftlich
bedrohten Mittelstandes. Im September 1879 hielt er seine erste antisemitische Rede
und löste eine
politische und geistig kulturelle Entwicklung
aus. Dem neuen Volkstribun
gelang die Mobilisierung des Mittelstandes und des akademischen Nachwuchses. Er lie-
ferte die Formel,
nach der in den folgenden Jahrzehnten jene Legierung von Antisemitismus
und Nationalismus entstand 
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.
Stoecker hatte zwar nicht biologistisch gedacht, doch wie
die radikalen, rassisch-völkischen Antisemiten,
sah auch er hinter allen vermeintlichen
Angriffen auf Deutschtum und Christentum jüdische Anstiftung, eine internationale jüdische
Verschwörung. Zu seinen schlimmsten Ausfällen, die er teilweise zurücknehmen mußte, gehö-
ren Ritualmordbeschuldigungen und Drohungen, auch das deutsche Volk könne sich wie das
russische zu Pogromen hinreißen lassen. Zu den wichtigsten Nachwirkungen Stoeckers zählt
sicherlich, daß er das evangelische Kirchenvolk auf einen aggressiven Antisemitismus vorbe-
reitete. Er war mehrere Jahre mit rassisch-völkischen und antichristlichen Antisemitenführern
verbündet. Der Durchbruch des politischen Antisemitismus ab 1870 ist eng mit seiner Person
verknüpft. Auch wenn dies nicht in seiner Absicht lag – Stoecker gehört zur Vorgeschichte von
Auschwitz.
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Stoecker besaß großen Einf luss auf die studentische Bewegung. Es gelang
ihm,
den Samen des Antisemitismus
auszustreuen. Er bezeichnete die Juden
als das von
Gott verworfene, zu ewigem Umherirren verurteilte Volk, das als verderblicher Blutstropfen in
unserem Volkskörper
pulsiere und als
verderbliche Macht erkannt
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werden müsse.
Im März 1880 hielt sich Stoecker in Braunschweig auf und hielt eine Rede zum
Thema „Socialdemokratisch, Socialistisch und Christlich-Sozial“.
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Das Wolfenbütteler
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Ab 1924: „Wolfenbütteler Zeitung“.
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In Ahlum bei Wolfenbüttel richtete der dortige Pfarrer Klusmeyer 1888 eine Volksbücherei ein. Er ver-
teilte Sonntagspredigten Stoeckers gezielt an Arbeiterfamilien; vgl. Hoffmann, Birgit, Kirche und Gemein-
den in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Die Beispiele Ahlum und Wendessen, in:
Braunschweigisches Jahrbuch 2008, Bd. 89, S. 129.
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Jochmann, Werner, Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus 1878 – 1914, in: Strauss, Her-
bert A./Kampe Norbert (Hg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Bonn 1988,
S. 112.
50
Decker, Martin/Schoeler, Martin, Evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel Bielefeld,
Vorwort zur 2. Auf lage, Bielefeld 1986.
51
Mosse, Werner. E (Hg.), Entscheidungsjahr 1932, Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Repu-
blik, Tübingen 1965, S. 252 f.
52
Vgl. Pötzsch, Hansjörg, Antisemitismus in der Region, Antisemitische Erscheinungsformen in Sachsen,
Hessen, Hessen-Nassau und Braunschweig 1870-1914, Wiesbaden 2000, S. 155.