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Gewalt und Entwürdigung
Der Boykott jüdischer Geschäftsinhaber und dessen Auswirkungen
In seinen Studien „zum alltäglichen Antisemitismus“ stellt Wolfgang Benz fest:
Die Zeit
zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik brachte für die deut-
schen Juden den Höhepunkt ihrer kulturellen Assimilation, zugleich aber schon den Beginn
der sozialen Dissimilation. Antisemitische Propaganda, die Schuldige an den als schmachvoll
empfundenen Folgen des Krieges suchte, deklassierte Kleinbürger mit Zukunftsangst, verletz-
ter deutscher Nationalstolz machten „den Juden“ zum Schuldigen. Daß man die nationale
Zuverlässigkeit der deutschen Juden in Frage stellte, ihnen den Vorwurf doppelter Loyalität
(„erst Jude, dann Deutscher“) machte, zeigte den Wunsch nach Ausgrenzung, der in der
Unterstellung einer Kriegserklärung „der Juden“ an das deutsche Volk im Frühjahr 1933
anläßlich der Boykott-Aktion vom 1. April einen ersten Höhepunkt hatte.
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Am 28. März erließ die Parteileitung der NSDAP eine Anordnung zur Bildung anti-
semitischer Aktionskomitees:
In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung der NSDAP
sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boy-
kotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte. Die
Aktionskomitees sind verantwortlich dafür, daß der Boykott keinen Unschuldigen, um so här-
ter aber die Schuldigen trifft.
Diese Ächtung wurde begründet mit einer Abwehrmaß-
nahme, die sich ausschließlich gegen das deutsche Judentum wende. Die Komitees soll-
ten die Propaganda über Folgen der
sogenannten jüdischen Greuelhetze
im Ausland in die
Betriebe hineintragen und besonders die Arbeiter über
die Notwendigkeit der Abwehr-
maßnahmen zum Schutz der deutschen Arbeit aufklären
.
Jedes kleine Bauerndorf
müsse ein-
bezogen werden,
um besonders auf dem f lachen Lande die jüdischen Händler zu treffen.
Grundsätzlich sei zu betonen, daß es sich um eine uns aufgezwungene Abwehrmaßnahme
handele.
Punkt zehn Uhr am Samstag, dem 1. April, habe der Boykott
schlagartig
zu
beginnen und müsse bis zur Aufhebungsanordnung der Parteileitung aufrecht erhalten
werden. Weiterhin hätten die Aktionskomitees die Aufgabe, jeden Deutschen mit Aus-
landskontakten dahin zu bewegen, diese
aufklärend
dazu zu benutzen
, daß in Deutsch-
land Ruhe und Ordnung
herrschten,
daß das deutsche Volk keinen sehnlicheren Wunsch
besitze,
als in Frieden seiner Arbeit nachzugehen und im Frieden mit der anderen Welt zu
leben, und daß es den Kampf gegen die jüdische Greuelhetze nur als reinen Abwehrkampf
führe. Die ganze Partei habe in
blindem Gehorsam wie ein Mann hinter der Führung
zu
stehen. Wer die Regierung verleumde, greife Deutschland an.
Schlag 10 Uhr
werde das
Judentum wissen, wem es den Kampf angesagt
habe.
285
Die Vernichtung der deutschen
Juden hatte begonnen. Wolfgang Benz merkte an, den Juden seien zunächst
die Staats-
bürgerrechte, dann die Menschenrechte, schließlich die Menschenwürde und zuletzt das
284
Benz, Wolfgang, Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 53.
285
Völkischer Beobachter, 29.3.1933; (Vgl. Jacobs, Reinhard, Terror unterm Hakenkreuz, Orte des Erin-
nerns in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, Göttingen, o. J., S. 101).