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Bei weiterem Durchblättern der zahlreichen Briefe entdeckte ich einen russischen
Stempelabdruck, der das Datum vom
30
. Juni
1955
anzeigte. Als ich mir die verstaubte,
dicke Akte näher ansah, fiel mir auf, dass die adeligen preußischen Botschafter (von
Maltzahn, von Canitz, von Arnim, von Nostiz, zu Ysenburg) nach der Mode der Zeit
ihre Berichte auf goldgerandeten Briefbögen verfasst hatten, so dass die Briefstapel,
wenn man sie von der Seite betrachtete, den Eindruck vermittelten, sie wären mit einer
massiven Goldleiste eingefasst. Vielleicht war dieser Goldglanz der Grund, dass
ausgerechnet diese Akte nach Russland verschleppt worden war, jedoch später, zwar
verstaubt aber offensichtlich unversehrt, zurückgegeben worden ist.
Die politischen und militärischen Ereignisse vom preußisch-österreichischen Krieg
im Jahre
1866
, dem deutsch-französischen Krieg von
1870/71
bis hin zum ersten
Weltkrieg in den Jahren
1914
bis
1918
sind in der Geschichtsschreibung ausführlich
behandelt worden; auch jene Fragen, die in diesen Zeitabschnitten die braunschwei-
gische Geschichte betreffen, wie die Annexion Hannovers durch Preußen und die
verhinderte Thronfolge der Hannoveraner Welfen in Braunschweig sind in zahlreichen
Büchern und Fachaufsätzen einem interessierten Publikum bekannt gemacht worden.
Überwiegend nicht berücksichtigt sind bisher dabei die Ansichten des Hauptbeteiligten,
des Herzogs Wilhelm, der in seinen persönlichen Notizen, Briefen oder sonstigen
Dokumenten sich ebenfalls zu diesen Ereignissen geäußert hat. Will man diese
Forschungsergebnisse aus dem Nachlass, insbesondere aus den Tagebüchern des
Herzogs, sachgerecht zuordnen, dann ist natürlich die Kenntnis des historischen
Gesamtzusammenhangs unerlässlich und auch die geschichtliche Bewertung des
Reichskanzlers Otto von Bismarck – jedenfalls aus welfischer Sicht – wird ohne
Kenntnis und Beurteilung seiner Maßnahmen gegen Hannover und Braunschweig
höchst unvollständig sein, so umfangreich ansonsten die Literatur über Bismarck auch
sein mag. Allerdings muss man feststellen, dass auch unter Bismarcks Nachfolgern als
Reichskanzler der preußische „Rechtsverstoß” gegen die Welfenfamilie nicht geheilt
wurde, abgesehen von der Aufhebung der Beschlagnahme des Vermögens der hanno-
verschen Fürsten durch Leo von Caprivi, die dieser am
5.
April
1890
dem preußischen
Ministerrat mitgeteilt hatte.
Die wenigen Leser, denen die von mir vorgetragenen Fakten überwiegend bekannt
sind, mögen mir meine relative Ausführlichkeit des Vortrages nachsehen. Neu sind
jedoch in jedem Falle, auch für belesene und sachkundige Historiker, die von mir
erarbeiteten und hinzugefügten Meinungsäußerungen des Herzogs Wilhelm, die in
vielen Fällen zu einer modifizierten Einstellung zu gewissen Vorgängen der
braunschweigischen Geschichte führen werden. Seiner Königlichen Hoheit, dem
Prinzen Ernst August von Hannover, bin ich für die Genehmigung, in den Nachlass des
Herzogs Wilhelm Einsicht nehmen zu dürfen, zu besonderem Dank verpflichtet
Nun besteht das Leben der Fürsten natürlich nicht nur aus Kriegen, Krisen, Intrigen
und politischen Erfolgen oder Niederlagen, sondern auch private Erlebnisse und
Ereignisse prägen ihr Leben aber auch ihren Charakter, und können ererbte Anlagen
verstärken oder abmildern. Diese Erkenntnis war für mich ein Grund, die Schriftstücke,
Briefe und Vermerke der Nachlässe der Brüder Karl und Wilhelm, insbesondere die
Tagebuch-Aufzeichnungen des Herzogs Wilhelm, intensiv durchzusehen, und teilweise