Seite 32 - Kirchenbuch

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Hilfe einer großartigen Spendenaktion, initiiert von dem Bankier Hermann Josef Abs
und unterstützt auch von sehr vielen Bürgern im ehemaligen Lande Braunschweig,
konnte dieses kostbarste Buch Heinrichs des Löwen, das in der Herzog August Biblio-
thek in Wolfenbüttel aufbewahrt wird, am Nikolaustag des Jahres 1983 für 33,5 Millio-
nen Deutsche Mark beim Londoner Auktionator für die Bundesländer Niedersachsen
und Bayern ersteigert werden. Im April 2009 begann ein Streit um das Eigentum am
Welfenschatz, weil die jüdischen Kunsthändler, die 1929 den Schatz vom Welfenhaus
erworben hatten, nach 1933 vom NS-Regime verfolgt wurden. Ob 1935 der Rückkauf
jener 42 Stücke durch die Reichsregierung rechtmäßig war, ist daher umstritten. Auch
in diesem Streit wird von allen Beteiligten, auch vom hannoverschen Welfenhaus,
nicht berücksichtigt, dass der Welfenschatz und das Evangeliar Heinrichs des Löwen
ursprünglich das kirchliche Eigentum des Braunschweiger Stiftes St. Blasii waren.
Die aus Braunschweiger Sicht berechtigte Kritik an der Wegführung des Welfenschat-
zes 1671 aus der Stiftskirche St. Blasii und schließlich an seiner Privatisierung durch
den letzten hannoverschen König Georg V. und dessen Nachkommen darf nicht über-
sehen, dass diese unglückliche Geschichte der wertvollsten kirchlichen Kunstsamm-
lung aus Braunschweig auch mit protestantischer Radikalkritik am mittelalterlichen
Reliquienkult und mit einem aufgeklärten Desinteresse an mittelalterlicher Kunst zu
erklären ist. Herzog Johann-Friedrich, der erste hannoversche „Besitzer“ des Welfen-
schatzes, hatte immerhin als ein 1651 zum Katholizismus konvertierter Christ ein per-
sönliches Interesse am Erwerb dieses Schatzes, und sein Wolfenbütteler Vetter Rudolf
August war bloß aus militärischem Interesse bereit gewesen, den Schatz auszuliefern.
Er tat das, ohne auch nur das seit 1542 evangelische Stiftskapitel in Braunschweig zu
informieren. Die nachreformatorische Abwertung von Reliquien lässt sich überall in
Norddeutschland beobachten: Von den Reliquien Ansgars, des Apostels des Nordens,
der am 3. Februar 865 im Bremer Dom bestattet wurde, ist in Bremen seit dem 16. Jahr-
hundert nichts mehr vorhanden, in Bordesholm auch nichts von Vizelin, dem aus Ha-
meln stammenden Apostel der Wagrier und Holsten, dessen Reliquien sich zuletzt im
Bordesholmer Stift der Augustiner-Chorherren befunden hatten.
Schließlich ein Beispiel aus Helmstedt: Dort wurde 1553 die reiche katholische Abtei
St. Ludgeri gestürmt und geplündert. Vorsorglich hatte jedoch sechs Jahre zuvor Abt
Hermann Holte, der rechtmäßig den beiden Klöstern in Helmstedt und Essen-Werden
vorstand, einige Kirchenschätze nach Werden geholt. Seitdem befinden sich dort in
der Schatzkammer der katholischen Kirche „St. Ludgerus“ das „Helmstedter Kreuz“
und der sogenannte „Ludgerkelch“, zwei wertvollste Schätze deutscher Sakralkunst
aus dem zehnten Jahrhundert.
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Exakt um dieselbe Zeit, um 1550, wurde von humanis-
tischen Theologen ebendort in der Abtei Essen-Werden der für die germanistische Phi-
lologie so wichtige und prächtige
Codex Argenteus
entdeckt. Diese in frühbyzantini-
scher Zeit kunstvoll geschriebene „Silberbibel“ ist ein königliches Evangeliar in der