Seite 29 - Raabe_inspiriert

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Kirsten Döbler
Die Friedhofsmauer
Schwerfällig und auf einen Gehstock gestützt,
schlurfte Rudolf Lehner über den Starom ˇestské
nám ˇestí in Richtung Rathaus. Er war zum ersten
Mal an die Moldau gereist und wunderte sich, dass
es ihm erst mit dreiundachtzig Jahren in den Sinn
gekommen war, Prag einen Besuch abzustatten.
Im Reiseführer hatte er gelesen, die astronomi-
sche Uhr am Altstädter Rathaus erwache zur vollen
Stunde zum Leben: Die Fenster über dem Ziffer-
blatt würden sich öffnen und die zwölf Apostel er-
scheinen. Der Tod persönlich schüttele am Turm
seine Knochen, während er die Sanduhr wende
und das Sterbeglöckchen läute. In Anbetracht sei-
nes fortgeschrittenen Alters befand Rudolf Lehner,
er dürfe sich dieses Schauspiel nicht entgehen las-
sen. Er reihte sich ein in die Touristenmenge, die zu
Füßen des Rathausturmes in der Augusthitze aus-
harrte.
Das Spektakel begann: Auf den Displays ihrer Ka-
meras betrachteten die Menschen das Defilee der
Apostel in den Turmluken. Ein Raunen ging durch
die Menge. Und tatsächlich: Rechts neben dem
astro­nomischen Zifferblatt begann die Figur des To-
des sich zu bewegen. Rudolf spürte, dass sein Puls
sich beschleunigte. Der Sensenmann rückte sein