Seite 39 - Zwangsarbeit

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4. Facetten der Zwangsarbeit
4.1. Vernichtung durch Arbeit: Juden aus Lodz bei der Büssing-NAG
in Braunschweig 1944-1945
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Karl Liedke
Einführung
Anfang 1944, als der Strom von ausländischen Zivilarbeitern in der Wirtschaft des Dritten
Reiches fast völlig versickert war, richtete sich die Aufmerksamkeit der deutschen Unter-
nehmen auf die Konzentrationslager der SS als eine auszubeutende Quelle von potentiel-
len Arbeitskräften. Im Frühjahr 1944 stieg die Anzahl der Arbeitslager, die als Außenlager
der Konzentrationslager funktionierten, in Deutschland und in den besetzten Gebieten
abrupt an. Ähnlich schnell wuchs die Zahl der Unternehmen (darunter auch zahlreicher
renommierter Firmen), die an der Organisation von diesen Außenlagern beteiligt waren.
Anträge auf Zuteilung von KZ-Häftlingen wurden von den interessierten Firmen
direkt beim SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) gestellt. Die Zuständigkeit lag
bei SS-Standartenführer Gerhard Maurer, dem Leiter der Abteilung D II, Arbeitseinsatz
der Häftlinge. In Einzelfällen wurden diese Anträge auch vom SS-Gruppenführer
Richard Glücks, Maurers Vorgesetztem, und, wenn der Antragsteller besonders gute
Kontakte zur SS pflegte, bevorzugt vom Leiter des WVHA, SS-Obergruppenführer
Oswald Pohl bearbeitet. Manchmal richteten die Firmenvertreter diese Anträge direkt an
die KZ-Kommandanten, was eigentlich gegen die geltenden Vorschriften verstieß.
Nachdem die Zuteilung von Häftlingen genehmigt worden war, kontrollierten Ver-
treter vom Wirtschaftsverwaltungshauptamt und der zuständige Lagerkommandant das
für die Häftlinge eingerichtete Lager, wobei man besonders auf verschiedene Sicher-
heitsvorkehrungen (entsprechender Zaun, Risiko der Kontaktaufnahme zu den Zivil-
arbeitern) achtete. Wenn diese Sicherheitsmaßnahmen erfüllt waren, wurde das entspre-
chende KZ angewiesen, eine bestimmte Anzahl von Häftlingen an den Antragsteller zu
überweisen. Die Firmen selbst waren verpflichtet, in einem Konzentrationslager die
Häftlinge auszuwählen, die für den Arbeitseinsatz am besten geeignet waren. Bis Ende
1944 hat das WVHA ca. 600.000 Häftlinge an deutsche Unternehmen überstellt
2
.
1
Der Autor, Mitarbeiter im Projekt, hat zum Thema Aufsätze in englischer und polnischer Sprache veröf-
fentlicht, hier erstmals in deutsch. – Vgl. Referat v. Shmuel
Krakowski
, Destruction through work in the
Third Reich and the involvement of German firms, vorgetragen am 12.10.1997 in Berlin und veröffentlicht
in Israel im Oktober 1998 in der Fachzeitschrift „Yalkut Moreshet“. Vgl. auch Karl
Liedke
und Elke
Zacharias
, Das KZ-Außenlager Schillstraße. Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen bei der Fa. Büssing.
Braunschweig 1995, über die Zwangsarbeit der Lodzer Juden bei der Fa. Büssing, sowie Axel
Richter
, Das
Unterkommando Vechelde des KZ Neuengamme. Zum Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungs-
produktion, Vechelde 1985.
2
Die Aussage von Karl Sommer, einem Mitarbeiter des WVHA vom 4.10.1946 vor einem alliierten Untersu-
chungsoffizier, zit. nach Fritz
Blaich,
Wirtschaft und Rüstung im Dritten Reich, Düsseldorf 1987, S. 116.
Der Einsatz von KZ-Häftlingen in der privaten deutschen Wirtschaft erfolgte aber schon früher.