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den Segen des wahren Gottesdienstes, der nicht allein in der Andacht im Tempel bestehe, son-
dern sich auch durch die Thaten des Menschen im Leben, in der Nächstenliebe kundgeben
müsse
. Nach der Beethovenschen Hymne
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre
sprach
der Rabbiner das Gebet für Kaiser und Reich und den in hebräisch und deutsch gehal-
tenen Segen. Nachmittags beging die Gemeinde das Fest mit einem großen Essen. Das
Miteinander der Bürger verschiedener Religionen ließ wahrscheinlich besonders die
Angehörigen der jüdischen Gemeinde auf eine Zukunft ohne Benachteiligungen hoffen.
Sie wähnten sich mit der neuen Synagoge in die städtische Gesellschaft aufgenommen.
Das Öffnen der Tempeltür bedeutete ihnen mehr als nur das Aufschließen des Gottes-
hauses. Der
Pfad zum Heil
wies den Weg in die Gleichberechtigung unter den religiösen
Gemeinden Wolfenbüttels. In den Kirchennachrichten der Lokalzeitung kündigten die
Juden ihre Gottesdienste in einer Reihe mit denen der anderen Kirchengemeinden an.
Die positiven Zeichen des jahrhundertelang ersehnten Wandels begleiteten Vorboten
einer Zeit, die alles Erreichte vernichten sollte. Die beiden Seiten des Wolfenbütteler
Kreisblattes, auf denen die Eröffnung der Synagoge breiten Raum einnimmt, enthalten
Hinweise, die aus der heutigen Beurteilung als drohende Schrift an der Wand hätten
erkannt werden können. Aus Anlass des Besuches von 3.000 Mecklenburgern in Fried
richsruh, dem Ruhesitz Bismarcks im Sachsenwald, zitierte das Kreisblatt Auszüge
einer Rede des Altkanzlers, die schon bald von rechtsnationalen politischen Gruppie-
rungen programmatisch aufgenommen und vor allem auch gegen die Juden angewandt
wurden. Bismarck sprach von der
Eifersucht der Fraktionen
im Reichstag als
Krebsscha-
den in unserem Lande
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und kritisierte den von Parteien getragenen Parlamentarismus.
1893 war auch das Jahr einer Reichstagswahl. Den Sozialdemokraten gelang es imWahl-
kreis Wolfenbüttel-Helmstedt am 15. Juni erstmalig, eine Stichwahl zu erreichen. Der SPD-
Kandidat,
Cigarrenarbeiter Wilhelm Wenzel in Schöningen
, unterlag im zweiten Wahlgang
dem Kandidaten des Bundes der Landwirte, Albert Schwerdtfeger, der sich im Reichstag
der nationalliberalen Fraktion anschloss.
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Die Lokalzeitung wies auch auf in den Reichstag
gewählte Judengegner hin:
Unter den drei Antisemiten, die im ersten Wahlgange einen Sitz
erobert haben, befindet sich leider auch der Herr Ahlwardt
.
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Dieser antisemitische Publizist
beteiligte sich maßgeblich an der Gründung der „Antisemitischen Volkspartei“ und schrieb
ein dreibändiges Werk „Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum”, das
nachhaltig den nationalsozialistischen Antisemitismus beeinflusste.
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1893 war zudem das
Gründungsjahr des „Central-Vereins der Juden in Deutschland“, einer Vereinigung, die sich
die
Wahrung der staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung der deutschen Juden
sowie die Pflege deutscher Gesinnung
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zur Aufgabe machte. Die Bekämpfung des Antisemi-
tismus gehörte natürlich zu den ureigensten Aufgaben der Mitglieder der später bis zu 555
Ortsgruppen umfassenden Organisation. Die Nationalsozialisten zwangen die Vereinsmit-
glieder, sich am Tag nach der Pogromnacht in „Reichsvertretung der deutschen Juden”
umzubenennen. In Wolfenbüttel existierte eine Ortsgruppe des Central-Vereins, die im
40
Wolfenbütteler Kreisblatt, 22.6.1893.
41
Buchholz, Marlis, Wolfenbüttel 1871 bis 1914. Beiträge zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel, Heft 4,
Wolfenbüttel 1992, S. 173.
42
Wolfenbütteler Kreisblatt, 22.6.1893.
43
Zentner, Christian/Bedürftig, Friedemann (Hg.), Das große Lexikon des Dritten Reiches, München 1985,
S. 19.
44
Philo-Lexikon, Handbuch des jüdischen Wissens, Berlin 1936, S. 123.