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aus dem Ausland sofort zu veröffentlichen. In allen Landesteilen sollten Ausschüsse
gebildet werden, damit der Boykott schlagartig beginnen könne und Zehntausende von
Massenversammlungen sollten organisiert werden. Um die Stoßkraft zu erhöhen, ver-
langte die Partei, die Forderung nach Entrechtung zunächst auf drei Gebiete zu beschrän-
ken: Ausschluss von Juden aus den Mittel- und Hochschulen, aus den medizinischen
Berufen und Einschränkung der beruf lichen Möglichkeiten jüdischer Juristen. Um
diese schon langfristig angelegten Maßnahmen als noch zeitlich begrenzt zu tarnen, ent-
hielten die Mitteilungen noch Einschränkungen wie
Fortführung solange, bis die Partei
leitung eine Aufhebung anordnet
und
aus der Erregung heraus geboren, die durch die Ver-
breitung der Greuelmärchen in der Bevölkerung entstanden ist
.
293
In der gleichen Ausgabe
berichtete die Wolfenbütteler Zeitung bereits über begonnene, teilweise gewaltsame
Aktionen in mehreren Städten des Reiches und erwähnte kurz, auch in Jerusalem solle
ein Boykott gegen deutsche Waren und Filme begonnen werden.
Reichsaußenminister von Neurath gab dem Korrespondenten der Associated Press
ein Interview und betonte die
ungeheure dem deutschen Volk innewohnende Disziplin
. Er
berief sich sogar auf einen prominenten jüdischen Bankier, der sich die Einmischung des
Auslandes verbeten hätte und gesagt habe:
Wir deutschen Juden sind manns genug, um uns
selbst zu helfen.
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Den der Bevölkerung Sand in die Augen streuenden Aussagen standen
die Berichte über tatsächliche Maßnahmen gegenüber: Die Preußische NSDAP-Landtags-
fraktion forderte vom Kultusministerium einen
rassischen Numerus clausus
und verlangte,
den Kampf der
deutschen Nation gegen den Lügenfeldzug
nun auch auf Kinder auszudeh-
nen:
Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß es untragbar ist, wenn heute noch jüdische Leh-
rer an preussischen Unterrichtsanstalten amtieren, während deutsche Frontsoldaten als Aushilfs-
lehrer in ihrem eigenen Vaterlande mit unzureichender Bezahlung herumgestoßen werden. Wir
betrachten es weiter als einen unmöglichen Zustand, daß in preußischen Lehranstalten auf die
Überheblichkeit jüdischer Schüler und Schülerinnen noch irgendwie Rücksicht genommen wird.
In diesen Tagen drehte sich nicht nur die Schraube der diskriminierenden Maßnahmen,
allmählich veränderte sich auch die Sprache, mit der begonnen wurde, der jüdischen Ein-
wohnerschaft das Menschsein abzusprechen. So forderten die erwähnten Abgeordneten,
sämtliche jüdischen, d. h. vom Juden herstammende oder bastardierende Lehrpersonen mit
sofortiger Wirkung von allen Unterrichtsanstalten abzubauen
.
295
Die Schulen und Universitä-
ten sollten ihre jüdischen Schülerinnen und Schüler auf das Maß von ein Prozent herunter-
führen, dem Bevölkerungsanteil der Juden im Deutschen Reich entsprechend. So wie der
deutschen Umgangsprache negative Begriffe hinzugefügt wurden, ging man auch daran,
jüdische Namen und Bezeichnungen per Verordnung als unzulässig zu bestimmen: Die
Reichspostverwaltung erließ ein neues
deutsches Telefonieralphabet
, das die Namen David,
Isidor, Nathan, Salomon und Zacharias durch
deutschklingende
Buchstabierhilfen ersetzte:
Dora, Julius, Nikolaus, Siegfried und Zeppelin.
296
Im ganzen Reich klebten die National-
sozialisten ein Plakat, das der notorische Judenhasser und Verbreiter der Ritualmordvor-
würfe, Julius Streicher, unterschrieben hatte. Streicher war Eigentümer und Herausgeber
des antisemtisch-pornographischen Blattes „Der Stürmer“ (Nürnberger Wochenblatt
293
Ebd.,29.3.1933.
294
Ebd.,30.3.1933.
295
Ebd.,31.3.1933.
296
Ebd.,18.5.1933.