Seite 36 - Juedische_Familien

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Vielleicht dachte er, sich kurz vor seinem Lebensende doch noch an den Juden rächen zu
können, die ihm seiner Ansicht nach im Schatten seiner berühmten Schwester Ricarda
den literarischen Ruhm versagt hatten. In seiner Volksaufklärungsschrift „Israel und Wir“
zog Huch, der am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, aus einer Ansammlung nied-
riger Klischees ein Resümee, mit dem er sich zur Clique der Antisemiten gesellte, die in
Wolfenbüttel nun mit großem Einsatz die ersten Entrechtungen organisierten:
Wir können
nur gewisse Eigentümlichkeiten des jüdischen Wesens heraussuchen, die wir als innerlich
undeutsch als Fremdkörper im deutschen Blut empfinden.
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Huch wusste von einer
jüdischen
Führung
, die versuche,
das Ausland in einen Krieg gegen uns zu hetzen 
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.
Mit dieser Einschätzung des sich distinguiert und gebildet wähnenden Dichters fällt
der Übergang aus dieser nationalistischen Intellektualität in die profane Welt des Boykotts
nicht mehr schwer. Die Braunschweigische Landeszeitung verbrauchte fast ein Viertel
ihrer Titelseite für zwei Schlagzeilen:
Die deutsche Abwehraktion – Gegen die Schänder der
deutschen Volksehre
– womit auch der um die Existenz seiner Familie ringende Altproduk-
tenhändler Jacob Berger, der Samenhändler Pohly, der Kaufmann Oschitzky und der
Pferdehändler Esberg und all die anderen netten und natürlich auch weniger netten jüdi-
schen Menschen mit ihren Töchtern und Söhnen und Großmüttern, Onkels und Tanten
gemeint waren, die mit Bangen den nächsten Tag erwarteten. Ihre angebliche
Lügenflut
und Gemeinheiten
bestimme die Schärfe des Boykotts, so die Zeitung, und deshalb werde
kein Käufer Gelegenheit haben,
jüdische Warenhäuser, Geschäfte und Verkaufsstellen zu
betreten, ohne auf die Posten der nationalen Abwehr zu stoßen. Kein jüdischer Rechtsanwalt und
Arzt wird verschont bleiben. Es ist Gelegenheit genug vorhanden, einen deutschen Rechtsanwalt
und einen deutschen Arzt aufzusuchen. Überall wo der Jude herrscht, wird er die Empörung zu
spüren bekommen, die seine Glaubensgenossen in Deutschland entfacht haben.
Doch trotz der
Drohungen und obgleich schon am Freitag
national gesinnte Arbeiter und Bürger – Kampf
und vaterländische Lieder singend
– die Stadt durchzogen und obwohl sich Nationalsozialis-
ten und deren Sympathisanten vor
jüdischen Geschäften
versammelten, seien
Tausende in
diese Geschäfte gepilgert, um sich mit billiger Ramschware einzudecken.
Laut Landeszeitung
hatten einige der boykottgefährdeten Geschäfte am Vortag viele Preise gesenkt und somit
die
Schwäche gewisser Bevölkerungsschichten
ausgenutzt. Die Antwort:
An den Pranger
gehört, wer sich den Parolen der nationalen Regierung nicht fügt!
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Die Wolfenbütteler Zeitung titelte:
Deutsche Abwehr der Greuelpropaganda.
Auf der
Titelseite organisatorische Hinweise: Streichers Zentralkomitee erinnere daran, nur
gegen Geschäfte, die
sich in den Händen von Angehörigen der jüdischen Rasse befinden,
vorzugehen
. Die Religion spielt keine Rolle. Katholisch oder protestantisch getaufte Geschäfts-
leute oder Dissidenten jüdischer Rasse sind ebenfalls Juden
. Die Frage, wie mit den Geschäf-
ten umgegangen werden solle,
bei denen Juden nur finanziell beteiligt sind
, sollte noch
geklärt werden. Das aber wussten sie schon:
Ist der Ehegatte einer nichtjüdischen Geschäfts-
inhaberin Jude, so gilt das Geschäft als jüdisch. Das gleiche ist der Fall, wenn die Inhaberin
Jüdin ist, der Ehegatte aber nicht Jude ist
. Konvertierung wurde nicht akzeptiert. Ein wei-
terer Artikel auf der Titelseite enthält Stellungnahmen verschiedenster Personen, Fir-
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Huch, Rudolf, Israel und Wir. Ein Zwiegespräch zwischen einem Alten und einem in mittleren Jahren,
Eine Volksaufklärungsschrift, Berlin 1934, S. 36.
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Huch, Israel, S. 70.
300
Braunschweigische Landeszeitung, 31.3.1933.