Seite 38 - Juedische_Familien

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Die angebliche Deutschland-Hetze versuchte die Braunschweigische Landeszeitung zu
beweisen. Sie veröffentlichte ein Foto aus dem holländischen Organ der Sozialdemokratie,
das einen Boykottaufruf gegen Deutschland enthielt:
Boykottiert alle deutschen Erzeugnisse
wegen Terrors und Verfolgung!
Wer zu dieser Zeit in Deutschland und im Lande Braun-
schweig die Augen offen hielt, sich für die Sicherheit Andersdenkender interessierte,
konnte diese holländische Begründung nicht als Verunglimpfung und Gräuelnachricht
erkennen. Terror und Verfolgung trafen zu. Kritische Zeitgenossen, ob jüdische, protestan-
tische oder katholische, mussten die antijüdischen Maßnahmen als das ansehen, was sie
waren: Der erste Versuch der Nationalsozialisten, auszuprobieren, wie weit sie gehen
konnten und mit welchen Reaktionen der Bevölkerung sie zu rechnen hatten.
Die Reichsvertretung der deutschen Juden, ein Zusammenschluss jüdischer Vereine
zur Gesamtvertretung des deutschen Judentums, und der Vorstand der Berliner Jüdi-
schen Gemeinde richteten an Hindenburg, Hitler, die Reichsminister und auch an den
Berliner Polizeipräsidenten einen Brief, in dem sie die Maßnahmen zurückhaltend und
nur in einem einzigen Satz kritisierten: Sie, die deutschen Juden, seien
tief erschüttert von
dem Boykott-Aufruf der NSDAP
. Sie hätten nun wegen der Verfehlung einiger Weniger zu
leiden – gemeint waren hiermit nicht die NS-Terroristen, sondern die ins Ausland
gef lüchteten Deutschen – für die sie nie und nimmer Verantwortung trügen, …
soll uns
deutschen Juden, die sich mit allen Fasern ihres Herzens der deutschen Heimat verbunden
fühlen, wirtschaftlicher Untergang bereitet werden
. Die jüdischen Deutschen hoben jetzt
ihre Hingabe für Deutschland besonders hervor:
In allen vaterländischen Kriegen haben
deutsche Juden in dieser Verbundenheit Blutopfer gebracht. Im großen Kriege haben von fünf-
hunderttausend deutschen Juden zwölftausend ihr Leben hingegeben. Auf den Gebieten fried-
licher Arbeit haben wir mit allen unseren Kräften unsere Pf licht getan
. Obwohl sie die anti-
deutschen Vorgänge im Ausland mit äußerster Anstrengung bekämpft hätten, sollten sie
nun als die angeblich Schuldigen zugrunde gerichtet werden.
Wir rufen dem deutschen
Volke, dem Gerechtigkeit stets höchste Tugend war, zu: Wir wiederholen in dieser Stunde das
Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum deutschen Volke, an dessen Erneuerung und Aufstieg
mitzuarbeiten unsere heiligste Pf licht, unser Recht und unser sehnlichster Wunsch ist.
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Doch der Völkische Beobachter sah es anders: Deutschland wolle keine Weltwirren
und keine internationalen Verwicklungen. Verantwortlich für die
Lügen und Verleumdun-
gen sind die Juden unter uns. Von ihnen geht diese Kampagne des Hasses und der Lügenhetze
gegen Deutschland aus. In ihrer Hand
läge
es, die Lügner in der übrigen Welt zurechtzuweisen
.
Wie sollten sie das tun, Jakob Berger, Gustav Eichengrün und Nathan Schloss und die
anderen Familien, wenn ihnen die Inhalte der Kritik mangels ausländischer Zeitungen gar
nicht bekannt werden konnten? Es lag nicht im Interesse des Völkischen Beobachters, die
Kritik gef lüchteter Deutscher zu zitieren. Dafür schmiss die Zeitung ihren Lesern eigene
Gräuelnachrichten entgegen, ohne deren Quellen zu benennen:
Lügen und Verleumdungen
von geradezu haarsträubender Perversität werden über Deutschland losgelassen. Greuel­märchen
von zerstückelten Judenleichen, von ausgestochenen Augen und abgehackten Händen werden
verbreitet und zu dem Zweck, das deutsche Volk in der Welt zum zweitenmal zu verleumden. (…)
Sie lügen von Jüdinnen, die getötet würden, von jüdischen Mädchen, die vor den Augen ihrer
Eltern vergewaltigt worden seien, von Friedhöfen, die verwüstet sind!
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Sich gegen derartige
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Ebd.,1.4.1933.
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Völkischer Beobachter, 29.3.1933.