Seite 39 - Juedische_Familien

Basic HTML-Version

95
Vorwürfe zu wehren, die sonst in ähnlicher Art bisher immer den Juden als Täter zuge-
schrieben worden waren, war unmöglich. Die Taktik Streichers war klar: Mit den – viel-
leicht aus seiner Giftküche stammenden – Abscheulichkeiten lenkte er ab von den wahren
brutalen Unmenschlichkeiten gegen Andersdenkende, die auch in Wolfenbüttel vorge-
kommen waren, und, die ein paar Wochen später an Brutalität noch zunehmen sollten.
Über den Ablauf des Boykotttages 
305
in Wolfenbüttel gibt es nur wenige Informatio-
nen. Befragte Zeitzeugen konnten mehr als 60 Jahre danach zwar über die Anti-Juden-
Maßnahmen berichten, die Differenzierung der einzelnen Stadien vom 1. April 1933 bis
hin zu den Deportationen gelang nicht mehr. Genau erinnerten sich Lore Bodek und Resi
Liebmann, die berichteten, auch vor der Viehhandlung ihres Vaters Nathan Schloss seien
SA-Posten aufgezogen.
306
Rina Gruenberg, Tochter des Zahnarztes Dr. Rudolf Rülf,
schrieb mir:
Am 1. April 1933 gingen SA durch die Straßen, blieben an jedem Haus, in dem
Juden wohnten, stehen und grölten ihre Antijudenparolen.
307
Die jüdischen Geschäfte blieben
geschlossen. Vor den Läden standen SA-Männer mit Schildern, die auf den jüdischen
Besitzer hinwiesen. Otto Rüdiger, SPD-Chronist, kommentierte den Tag nur in wenigen
Sätzen:
Die jüdischen Geschäftsinhaber waren schlauer als die SA mit ihren Fotoapparaten, die
jeden im Bilde festhalten wollten, der ein jüdisches Geschäft besuchte. Die Geschäfte wurden gar
nicht erst aufgemacht. Die aufgestellten Posten konnten eingezogen werden. Wer einen Juden in
diesem Schicksalskampf unterstützen wollte, ging an einem anderen Tag einkaufen. Selbstver-
ständlich wurde der Boykott auch in Wolfenbüttel durchgeführt. Es wurde ein Umzug arrangiert
und der Leiter desselben, Flügge, warnte vor dem Abmarsch vor Plünderungen. Er kannte seine
Rabauken.
308
Am Boykott-Samstag erschien die Wolfenbütteler Zeitung mit der Über-
schrift:
Boykott vorläufig nur Sonnabend
und verkündete eine Erklärung Goebbels: Das
angebliche Abf lauen der Gräuelhetze sei die direkte Folge der Abwehraktionen. Falls die
Gräuelhetze bis Mittwoch zehn Uhr vollkommen eingestellt sei, erkläre sich die NSDAP
bereit,
den Normalzustand wieder herzustellen
. Sei das aber nicht der Fall, werde der Boy-
kott aufs neue einsetzen,
dann allerdings mit einer Wucht und Vehemenz, die bis dahin noch
nicht dagewesen ist
. Die Zeitung veröffentlichte großf lächig ein faksimiliertes Plakat der
NSDAP mit der Aufschrift:
Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!
309
Angesichts der weltweiten Proteste gegen Nazi-Deutschland scheinen die Boykott-
Verantwortlichen
kalte Füße bekommen zu haben
, so Wolfgang Benz:
War man nicht sicher,
ob man die „Volkswut“ von SA und SS und den Konkurrenzneid des Kampfbundes zügeln
könnte? Das Verbot von Tätlichkeiten und Sachbeschädigung war sicher nicht nur Alibi; und
Meldungen über Vorfälle beim Vorweg-Boykott konnten die Befürchtungen nur bestärken.
310
Neue Aufrufe vor Aktionsbeginn zeigten ein doppeltes Gesicht, martialisch gegen die
Juden und zugleich drohend gegen potentielle Gewalttäter:
Jegliche Ausschreitung ist mit
allen Mitteln zu verhindern. Lassen sich Parteigenossen zu irgendwelcher Gewalt hinreißen, so
ist ihnen auf der Stelle das Braunhemd herunterzureißen. Keinem Juden wird auch nur ein
305
Der englischen Schriftsteller Louis Golding bezeichnete den Boykott als
kalten Pogrom.
(Golding, Louis,
The Jewish Problem, Harmondsworth 1938, S. 117.) In der veröffentlichten Geschichtsschreibung wird
dieses Ereignis im Schatten des Pogroms vom November 1938 oft nur nebensächlich behandelt.
306
Archiv Kumlehn, Brief von Rina Grünberg, 17.8.1995.
307
Ebd.
308
Rüdiger, Wirken, S. 383.
309
Wolfenbütteler Zeitung, 1.4.1933.
310
Benz, Juden, S. 277.