Seite 40 - Juedische_Familien

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Haar gekrümmt.
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Wie in Wolfenbüttel verliefen die Maßnahmen auch in Braunschweig
ohne Störungen
. Karstadt entließ sämtliche jüdischen Angestellten. Die Stadt war mit Pla-
katen übersät:
Deutsche, kauft nur in deutschen Geschäften! Das Weltjudentum soll uns ken-
nen lernen!
Auch vor den Praxen jüdischer Ärzte und Rechtsanwälte waren SA-Wachen
aufgezogen. Der Kinderarzt Dr. Max Cantrowitz nahm sich das Leben.
Ob, wie man hört,
der Selbstmord mit der Boykottbewegung zusammenhängt, ist zweifelhaft
, spekulierte die
Wolfenbütteler Zeitung:
Es können auch andere Gründe vorliegen
.
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Das von Streicher
geleitete Zentralkomitee drohte weiter:
Sollte das Weltjudentum aber wagen, dem hiermit
bewiesenen Großmut des deutschen Volkes zum Trotz die Lügen fortzusetzen, so schwören wir
als verantwortliche Führer, den deutschen Abwehrboykott durchzuführen bis zur völligen nie
wieder gutzumachenden Vernichtung des in Deutschland Gastrecht genießenden Judentums
.
Die Worte
bis zur
völligen nie wieder gutzumachenden Vernichtung
hob die Wolfenbütteler
Zeitung durch Sperrdruck besonders hervor. Musste mit dieser eindeutigen Drohung
Lesern der Lokalzeitung nicht bewusst geworden sein oder mindestens Nachdenklichkeit
erzeugt haben, was mit den jüdischen Nachbarn geschehen sollte?:
Vernichtung
. War mit
dieser in der Heimatzeitung auf Seite eins hervorgehobenen Ankündigung nicht auch das
Ende des bisherigen verbalen Antisemitismus – wie er auch die Straßen Wolfenbüttels
bereits jahrelang erfüllte – angestimmt worden? „Vernichtung“ hatte Streicher angekün-
digt, nicht Zurückdrängung, Ausschaltung oder ein Leben als Bürger zweiter Klasse:
Vernichtung. Für den Fall, dass es trotz der Drohungen der Nationalsozialisten gegen
ihre eigenen Mitglieder zu Vorfällen kommen sollte, hatte das Zentralkomitee vorsichts-
halber vorgesorgt und bekanntgegeben, dass
bolschewistische Provokateure, die zu Tätlich-
keiten hetzen, um unserer großen Sache in den Augen der Welt in den Schmutz zu ziehen, fest-
zunehmen und der Polizei zu übergeben sind.
Am 1. April erließ die Wolfenbütteler Zeitung folgenden Aufruf:
Die Lügenhetze des
Auslandes erfordert es, daß alle Verbindungen zum Auslande, die in Form geschäftlicher, ver-
wandtschaftlicher oder freundschaftlicher Beziehungen bestehen, dazu benutzt werden, um
allen Greuelmärchen über Deutschland nachdrücklich entgegenzutreten und sie als Lügen zu
kennzeichnen. Wir fordern unsere Leser auf, alle ihre derartigen Beziehungen in den Dienst
der deutschen Abwehraktion zu stellen, und sind bereit, die Namen der Verbände, Vereine und
Einzelpersonen, die ihre ausländischen Verbindungen in dieser Weise eingesetzt haben, in
unserer Zeitung fortlaufend mitzuteilen.
Den Anfang machte der Verleger Heinrich Wessel
selbst. In die auch ins Ausland verschickte und in seinem Verlag erscheinende April-
nummer der Zeitschrift „Die deutsche Schule im Auslande“ ließ er eine Mitteilung ein-
legen:
Im Zusammenhang mit der nationalen Erneuerung in Deutschland werden im Aus-
lande Verleumdungen und Greuelmärchen verbreitet, die in keiner Weise entsprechen. Wir
bitten alle Bezieher unserer Verlagserscheinungen, daß sie, wo irgendwelche derartige Ver-
leumdungen über Deutschland auftauchen, ihnen nachdrücklich entgegenzutreten und darauf
hinzuweisen, daß Ruhe und Ordnung in Deutschland nirgends gestört sind
. Welchen Erfolg
der Aufruf bereits hatte, erfuhr der Leser in weiteren Zeilen:
Ferner wird uns mitgeteilt,
daß Frau Helene Fricke, hier, Langestraße 37, Verwandten in Bizerta (Tunis, franz.) über den
Lügenfeldzug im Auslande in aufklärendem Sinne geschrieben hat. Herr Meyer-Rotermund
(derzeitiger WZ-Schriftleiter) hat sich dementsprechend mit Verwandten in Utrecht (Holland)
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Ebd.
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Wolfenbütteler Zeitung, 3.4.1933.