155
            
            
              Flucht, Deportation und verwischte Spuren
            
            
              Jüdische Wolfenbütteler
            
            
              In seinem Gedicht
            
            
              
                Diese Toten
              
            
            
              appelliert Erich Fried an Christen, damit aufzuhören, sie
            
            
              in den Trauerworten
            
            
              
                immer Miriam und Rachel und Sulamith und Aron und David zu nen-
              
            
            
              
                nen
              
            
            
              . Denn
            
            
              
                sie haben auch Anna geheißen und Maria und Margarethe und Helmut und Sieg-
              
            
            
              
                fried
              
            
            
              . Wir, die nichtjüdischen Deutschen, sollen sie uns nicht anders denken als wir
            
            
              selbst, denn manchmal waren auch sie
            
            
              
                blond und hatten auch blaue Augen
              
            
            
              . Fried bittet
            
            
              eindringlich, dass wir sie uns
            
            
              
                nicht mit schwarzem Kraushaar und gebogenen Nasen
              
            
            
              vor-
            
            
              stellen.
            
            
              Erich Frieds Mahnruf wird angesichts der in diesem Buch zu betrachtenden Fotos
            
            
              aus dem Besitz ehemaliger jüdischer Familien nachvollziehbar. Es handelt sich um Fotos
            
            
              aus Familienalben, wie sie wohl jede Familie besitzt und bewahrt. Die Menschen darauf
            
            
              trugen Vornamen wie Siegfried, Hermann und Renate. Sie feierten bis auf religiöse Aus-
            
            
              nahmen die gleichen Feste wie ihre christlichen Nachbarn. Sie spielten Skat, feierten
            
            
              Geburtstage und erholten sich am Wochenende im nahegelegenen Elm oder Harz. Da
            
            
              sich nach Ansicht der Nationalsozialisten Menschen hinter Namen verbergen könnten,
            
            
              ersannen sie zur Bloßstellung verschiedene Maßnahmen. Eine dieser entwürdigenden
            
            
              Bestimmungen trat am 1. Januar 1939 in Kraft: Juden mussten ihrem Vornamen einen
            
            
              Zwangsnamen hinzufügen: „Sara“ für Frauen und „Israel“ für Männer. Das wurde nicht
            
            
              nur standesamtlich registriert, die Maßnahme führte auch zu Ergänzungen im hiesigen
            
            
              Synagogenregister. So wurde unter anderem die Geburtsanzeige der im August 1858
            
            
              geborenen Therese Neuberg mit diesem Hinweis versehen wurde:
            
            
              
                Gemäß Verordnung
              
            
            
              
                vom 17. Aug. 1938 hat die vorstehend Verzeichnete mit Erklärung v. 17. Jan. 1939 den zusätz-
              
            
            
              
                lichen Vornamen „Sara“ angenommen.
              
            
            
              547
            
            
              
                Wolfenbüttel, den 20. Januar 1939, Dr. Schatten-
              
            
            
              
                berg.
              
            
            
              Mit Ausnahme der Familie Berger gehörten die jüdischen Wolfenbütteler Familien
            
            
              dem gutsituierten und zum Teil wohlhabenden Bürgertum an.
            
            
              548
            
            
              Zacharias Cohn gehörte
            
            
              547
            
            
               Am 18.4.1951 hat ein Staatsarchivinspektor den
            
            
              
                zusätzlich angenommenen Namen
              
            
            
              gestrichen. Das Synago-
            
            
              genregister enthält weitere Eintragungen dieser Art. Die Streichungen erfolgten aufgrund einer Anord-
            
            
              nung der Militärregierung, die von der Kreisverwaltung per Rundverfügung vom 9.12.1946 an alle Stan-
            
            
              desbeamten weitergeleitet worden ist. Die Stadtpolizeibehörde Wolfenbüttel hatte den Landkreis bereits
            
            
              im März 1946 ein wenig im NS-Jargon informiert, dass Meldeunterlagen, die sich
            
            
              
                auf das Wehrverhältnis
              
            
            
              
                und zivilen Luftschutz beziehen, sowie über die Zugehörigkeit des Meldepf lichtigen zur jüdischen Rasse, sind
              
            
            
              
                beseitigt. Die in Frage kommenden Registerkarten sind entfernt und durch neue ersetzt
              
            
            
              . (StA Wf, 34 N, Fb. 9,
            
            
              Nr. 1956) Im Februar 1947 ordnete die Kreisverwaltung an, die jüdischen Zwangsvornamen auch in den
            
            
              
                Personenstandsbüchern und -registern
              
            
            
              zu streichen. (StA Wf, 34 N, Fb. 9, Nr. 1956) In einer erneuten Rund-
            
            
              verfügung vom 16.10.1950 erinnerte der Landkreis an die verlangte Löschung der
            
            
              
                rassischen Einordnung
              
            
            
              und bestimmte,
            
            
              
                soweit dies noch nicht geschehen ist
              
            
            
              , es
            
            
              
                unverzüglich durchzuführen und dem Landkreis bis
              
            
            
              
                15.11.1950 zu berichten, daß die Löschungen vorgenommen worden sind.
              
            
            
              (StA Wf, 95 N, Nr. 63).
            
            
              548
            
            
               Berufe jüdischer Wolfenbütteler: Kaufmann, Viehhändler, Pferdehändler, Bankdirektor, Rohprodukten-
            
            
              Händler, Zahnarzt, Arzt, Versicherungsvertreter, Juwelier, Lehrer.