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Flucht, Deportation und verwischte Spuren
Jüdische Wolfenbütteler
In seinem Gedicht
Diese Toten
appelliert Erich Fried an Christen, damit aufzuhören, sie
in den Trauerworten
immer Miriam und Rachel und Sulamith und Aron und David zu nen-
nen
. Denn
sie haben auch Anna geheißen und Maria und Margarethe und Helmut und Sieg-
fried
. Wir, die nichtjüdischen Deutschen, sollen sie uns nicht anders denken als wir
selbst, denn manchmal waren auch sie
blond und hatten auch blaue Augen
. Fried bittet
eindringlich, dass wir sie uns
nicht mit schwarzem Kraushaar und gebogenen Nasen
vor-
stellen.
Erich Frieds Mahnruf wird angesichts der in diesem Buch zu betrachtenden Fotos
aus dem Besitz ehemaliger jüdischer Familien nachvollziehbar. Es handelt sich um Fotos
aus Familienalben, wie sie wohl jede Familie besitzt und bewahrt. Die Menschen darauf
trugen Vornamen wie Siegfried, Hermann und Renate. Sie feierten bis auf religiöse Aus-
nahmen die gleichen Feste wie ihre christlichen Nachbarn. Sie spielten Skat, feierten
Geburtstage und erholten sich am Wochenende im nahegelegenen Elm oder Harz. Da
sich nach Ansicht der Nationalsozialisten Menschen hinter Namen verbergen könnten,
ersannen sie zur Bloßstellung verschiedene Maßnahmen. Eine dieser entwürdigenden
Bestimmungen trat am 1. Januar 1939 in Kraft: Juden mussten ihrem Vornamen einen
Zwangsnamen hinzufügen: „Sara“ für Frauen und „Israel“ für Männer. Das wurde nicht
nur standesamtlich registriert, die Maßnahme führte auch zu Ergänzungen im hiesigen
Synagogenregister. So wurde unter anderem die Geburtsanzeige der im August 1858
geborenen Therese Neuberg mit diesem Hinweis versehen wurde:
Gemäß Verordnung
vom 17. Aug. 1938 hat die vorstehend Verzeichnete mit Erklärung v. 17. Jan. 1939 den zusätz-
lichen Vornamen „Sara“ angenommen.
547
Wolfenbüttel, den 20. Januar 1939, Dr. Schatten-
berg.
Mit Ausnahme der Familie Berger gehörten die jüdischen Wolfenbütteler Familien
dem gutsituierten und zum Teil wohlhabenden Bürgertum an.
548
Zacharias Cohn gehörte
547
Am 18.4.1951 hat ein Staatsarchivinspektor den
zusätzlich angenommenen Namen
gestrichen. Das Synago-
genregister enthält weitere Eintragungen dieser Art. Die Streichungen erfolgten aufgrund einer Anord-
nung der Militärregierung, die von der Kreisverwaltung per Rundverfügung vom 9.12.1946 an alle Stan-
desbeamten weitergeleitet worden ist. Die Stadtpolizeibehörde Wolfenbüttel hatte den Landkreis bereits
im März 1946 ein wenig im NS-Jargon informiert, dass Meldeunterlagen, die sich
auf das Wehrverhältnis
und zivilen Luftschutz beziehen, sowie über die Zugehörigkeit des Meldepf lichtigen zur jüdischen Rasse, sind
beseitigt. Die in Frage kommenden Registerkarten sind entfernt und durch neue ersetzt
. (StA Wf, 34 N, Fb. 9,
Nr. 1956) Im Februar 1947 ordnete die Kreisverwaltung an, die jüdischen Zwangsvornamen auch in den
Personenstandsbüchern und -registern
zu streichen. (StA Wf, 34 N, Fb. 9, Nr. 1956) In einer erneuten Rund-
verfügung vom 16.10.1950 erinnerte der Landkreis an die verlangte Löschung der
rassischen Einordnung
und bestimmte,
soweit dies noch nicht geschehen ist
, es
unverzüglich durchzuführen und dem Landkreis bis
15.11.1950 zu berichten, daß die Löschungen vorgenommen worden sind.
(StA Wf, 95 N, Nr. 63).
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Berufe jüdischer Wolfenbütteler: Kaufmann, Viehhändler, Pferdehändler, Bankdirektor, Rohprodukten-
Händler, Zahnarzt, Arzt, Versicherungsvertreter, Juwelier, Lehrer.