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die ihre Lebenserfahrungen zum Aufschreiben hätten anbieten können, die Stadt nach
1933 in viele Gegenden der Welt verlassen haben, umgekommen oder ermordet worden
sind. Die Geschichte der jüdischen Wolfenbütteler hätte vor vierzig oder fünfzig Jahren
dokumentiert werden müssen. Damals lebten von der älteren jüdischen Generation noch
jene, denen die Flucht gelungen war. Sie nach der Nazizeit nicht gesucht zu haben, ist eine
der Unterlassungen der Heimat- und Geschichtspflege der Stadt. Nicht einmal diejenigen,
die in die Stadt kurzzeitig zurückkehrten und sie immer wieder auch besuchten und dieje-
nigen, die noch regelmäßige Kontakte zu einstigen Schulfreundschaften aufrecht erhielten,
hat man darum gebeten. 1953 veröffentlichte Heinz Grunow das Büchlein „Dein Reisebe-
gleiter Wolfenbüttel“ mit vielen Hinweisen auf die Geschichte der Stadt und biographi-
schen Details zu bekannten Bürgern der Stadt. Grunow erwähnt zwar die
Austreibung der
Deutschen aus den Ostgebieten
555
und Vermehrung der Wolfenbütteler Bevölkerung, doch
erwähnte er weder die jüdischen Wolfenbütteler noch die Samsonschule. Wolfenbütteler
Publikationen haben noch bis über das Jahr 2000 hinaus die jüdische Geschichte nicht oder
nur nebensächlich erwähnt. Eine Ausnahme ist das 2006 erschienene Buch „Wolfenbüttel,
Kulturstadt mit Flair“, in dem die Behandlung der jüdischen Wolfenbütteler als „Barbaren-
tum“ beschrieben ist.
556
Angehörige ehemaliger Wolfenbütteler Familien haben mir freund-
licherweise viele Fotos überlassen. Besonders wertvoll sind die Gruppenaufnahmen von
Geselligkeiten, zu denen sich Familien in Privatwohnungen und Wolfenbütteler Lokalitäten
getroffen haben. Auf ihnen sind einige der Menschen zu sehen, die in den 1920er und
1930er Jahre in Wolfenbüttel mit großen Hoffnungen für sich und ihre Kinder gelebt haben.
Darunter befinden sich Bekannte oder Verwandte aus anderen Orten, die zu Besuch waren.
Leider war es bisher noch nicht möglich, alle Personen eindeutig zu benennen.
Die Flucht aus der Heimat
In den ersten Wochen des Jahres 1933 haben mehr als 50.000 Juden, darunter eine
beträchtliche Zahl prominenter Wissenschaftler, Künstler, Musiker und Schriftsteller
Deutschland verlassen.
557
Allein zwischen 1934 und 1938 verließen 100 000 jüdische Deut-
sche das Reich; sie mußten sich mit der Unsicherheit und dem Elend eines ungewissen und
häufig feindlichen Asyls abfinden
.
558
Insgesamt umfasst die deutschsprachige „Emigra-
tion“ nach 1933 etwa 500.000 Menschen. Durch das Ausbürgerungsgesetz vom 14. Juli
1933 schuf das nationalsozialistische Reich, wie erwähnt, die Grundlage für das Reichs-
finanzministerium, sich die Vermögen von circa 300.000 „Emigrationswilligen“ anzu-
eignen.
559
Die erste Fluchtwelle setzte gleich nach dem Regierungsantritt Hitlers ein.
Parallel zum Abebben des antijüdischen Terrors verringerte sich die Zahl der Flüchten-
den 1934, die aber 1935 nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze wieder erheblich
555
Grunow, Heinz, Dein Reisebegleiter Wolfenbüttel, Braunschweig 1953, S. 49.
556
Pinkert, Stephan/Grote, Hans-Henning, Wolfenbüttel, Kulturstadt mit Flair, Braunschweig 2006, S. 40/41.
557
Vgl. Schoeps, Julius H., Deutscher als die Deutschen, in: DIE ZEIT, 17.10.1997, S 37.
558
Steinbach, Peter, Zur deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Aus Politik
und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 3.1.1992, S. 9.
559
Vgl. Schoeps, Lexikon, S. 135.