159
bestimmt. Die Schmuckstücke wurden weit unter Wert taxiert.
564
Die Ausreise musste
zunächst durch den bürokratischen Wirrwarr der Ausreisebestimmungen, Visa, Affidat
(Bürgschaft), Reichsf luchtsteuer und Transitvisum freigekämpft werden:
Man brauchte
die Auswanderungsgenehmigung, und die bekam man nur, wenn alle Behörden dem Auswan-
derungsgesuch zustimmten: die Polizei, das Finanzamt, die jeweilige Gemeindeverwaltung;
dann hatte man natürlich von einem Aufnahmeland das Visum zur Einreise vorzuweisen;
außerdem musste genügend Geld vorhanden sein, um die Verwaltungsgebühren, Steuern und
vor allem die hohen Reisekosten bezahlen zu können. Alle diese Anforderungen machten die
Auswanderung für die Masse der deutschen Juden praktisch unmöglich – ganz abgesehen
davon, dass es auch an Staaten fehlte, die bereit gewesen wären, einige Hunderttausend Juden
aufzunehmen
.
565
Im September 1938 erschien als letztes Buch eines jüdischen Verlages der „Philo-At-
las“
566
, ein Ratgeber-Lexikon für „auswandernde“ Juden. Das Buch enthält Informatio-
nen über Länder, die als Fluchtorte überlegt werden konnten und enthält Tipps über
Auswanderung. Ob das Buch noch hat helfen können, ist zu bezweifeln. Wer kennt die
Ängste und Nöte der Flüchtenden, die oft nur als gleichberechtigte Menschen angesehen
wurden, wenn Sie die erforderlichen Papiere besaßen. Die Angst, trotz ordnungsgemä-
ßer Papiere das Zielland nicht erreichen zu können, war ein täglicher Begleiter:
Augen-
fällig wurde die Ablehnung jüdischer Flüchtlinge vor allem im Mai 1939, als zuerst Kuba und
schließlich die USA den 936 Passagieren der „SS St. Louis“ die Aufnahme verweigerten. Die
Schutzsuchenden wurden nach Europa zurückgebracht, wo die Mehrzahl von ihnen der Schoa
zum Opfer fiel.
567
Für das Recht auf Heimat der gef lohenen und vertriebenen Juden trat
in Deutschland nach 1945 niemand ein. Deren Vertreibung und Ermordung konnte kei-
nen anderen politischen Verhältnissen angelastet werden. Die Schuld lag eindeutig im
eigenen Lande. Niemand gründete eine „Landsmannschaft Wolfenbüttel“ der vertriebe-
nen Juden. Sie lebten ja nicht in einem Land, schon gar nicht in Deutschland, sondern
waren, soweit sie der Ermordung entgangen waren, über die ganze Welt verstreut:
Schweden, England, Belgien, USA, Brasilien, Chile, Argentinien, Australien, Israel.
Dort fanden sie neue Heimaten. Der Prozess ihrer Eingliederung war sehr schwer,
erheblich schwerer als der für die zum Beispiel nach Wolfenbüttel gekommenen Schle-
sier.
Zwangseinweisungen in abbruchreife Häuser
Nach dem Beginn des Zwangsverkaufs von Häusern jüdischer Grundstücksbesitzer fing
die Zusammenfassung der aus ihren Wohnungen hinausgeworfenen Menschen in Häu-
sern an, die noch Juden gehörten oder in denen sie noch zeitlich begrenzt wohnen durf-
564
Vgl. Fleiter, Rüdiger, Die „Verwertung jüdischen Eigentums“ am Beispiel der „Pfandleihaktion“ in Han-
nover, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer
Deutschlands, Jg. 55/2004, Heft 3, S. 151 u. 164.
565
Völklein, Ulrich, Der Judenacker, Gerlingen 2001, S. 180.
566
PHILO-Atlas, Handbuch für die jüdische Auswanderung, Reprint der Ausgabe von 1939, Bodenheim bei
Mainz (o.J.).
567
Ebd., S. 8.