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ten. Diese Praxis wurde verstärkt bis hin zur Unterbringung in baufälligen und abriss-
reifen Fachwerkhäusern. Wann und von wem diese Häuser als „Judenhäuser“
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bezeichnet wurden, ist unbekannt. Die Wolfenbütteler Naziführer glorifizierten ihre
Stadt nicht nur als Keimzelle der nationalsozialistischen Bewegung in Norddeutsch-
land
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, sondern hofften auch darauf, die Fachwerkstadt mit NS-Architektur und einem
Neubau des Bahnhofs dem Zeitgeist anzupassen. Beeinf lusst wurde dieses Anliegen
durch den Aufbau der Reichswerke „Hermann Göring“ im acht Kilometer entfernten
Watenstedt, Kreis Wolfenbüttel. In der Stadt Wolfenbüttel erwartete man durch die wirt-
schaftliche Entwicklung und den Zuzug Zehntausender wirtschaftliche Vorteile. Zudem
verlief die aus Braunschweig in Richtung Harz führende Reichsstraße 4 durch die Wol-
fenbütteler Innenstadt und kreuzte am Bahnhof die Schienen. Wegen des wachsenden
Verkehrs sollte eine Umgehungsstraße gebaut werden. Zur Erreichung dieses Zieles bot
sich die Breite Herzogstraße an, die mit der Langen Straße in Richtung südlichem Stadt-
rand in die Reichsstraße münden sollte.
Die Lange Straße war damals eine schmale, mit kleinen und vielfach reparaturbe-
dürftigen Fachwerkhäusern bebaute Altstadtstraße. Der Bau der neuen Straße war nur
durch den Abriss vieler Fachwerkhäuser in mehreren Straßen möglich.
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Im Juli 1939
informierte die Braunschweiger Tageszeitung über die Pläne mit der Überschrift:
Wol-
fenbüttels zukünftige Prachtstraße
:
Man stelle sich vor: Über 35 Meter breit die gesamte
Straße, die nach völlig neuen Gesichtspunkten unterteilt werden soll! Da gibt es in der Mitte
zunächst einmal die Fahrbahn für den Schnellverkehr, rechts und links durch Grünstreifen
getrennt von den Ortsfahrbahnen, die als Einbahnstraßen gedacht sind. Hieran schließen sich
dann, wiederum nach beiden Seiten, die Radfahrwege, und dann erst kommen die Fußwege.
Der nach seiner Fertigstellung fraglos außerordentlich imposante Straßenzug wird in der ange-
deuteten Form bis zum Bahnhofsvorplatz weitergeführt.
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Als
Vater des Gedankens,
also der Bauplanung, benannte die Braunschweiger Tages-
zeitung den städtischen Baurat Wein.
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Die
repräsentativen Großbauten
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der Pracht-
straße sollten dem Stadtbild angepasst werden, um nicht als Fremdkörper zu wirken.
Neben einer großen Versammlungshalle vor allem für Garnisonsangehörige und Vete-
ranen, einem Hotel und einem Kino, erwartete man auch den Bau einer großen Bade-
anstalt mit Strandbad. Für die Bewohner der abgängigen Häuser wurden im Osten der
Stadt sogenannte Volkswohnungen
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gebaut. Der Abbruch der Fachwerkhäuser begann
im Sommer 1939. Nach Beginn des Krieges mussten die Baumaßnahmen eingeschränkt
werden, schon bald wurde eine Einstellung verfügt. Im Juli 1942 erhielt Bürgermeister
Ramien vom „Gebietsbeauftragten des Generalbevollmächtigten für die Regelung der
Bauwirtschaft im Wehrkreis XI”, Hannover, ein Schreiben mit folgendem Wortlaut:
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Ralf Busch beschreibt das Haus von Amalie Schloss „Im Kalten Tal 2-4“ als „Judenhaus“. (in: Obenaus,
Handbuch, S. 1579.) Das ist unzutreffend.
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Vgl. Schmalz, Kurt, Nationalsozialisten ringen um Braunschweig, Braunschweig 1934.
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StA Wf, 34 N, Fb. 9, Nr. 1905.
571
Braunschweiger Tageszeitung, 10.7.1939.
572
Ebd., 13./14.4.1940.
573
Ebd., 9.5.1939.
574
Zur Bautätigkeit vor und nach der Nazizeit vgl.: Ohnesorge, Klaus-Walther, Wolfenbüttel, Geographie
einer ehemaligen Residenzstadt, Braunschweig 1974, S. 95; vgl. Pollmann, Birgit/Ludewig, Hans Ulrich,
Nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, S. 155.