Seite 49 - Juedische_Familien

Basic HTML-Version

163
lich in Berührung kommen.
582
Wohnungskündigungen von Juden, die in „arischen“ Woh-
nungen wohnten, nahmen seit 1938 rapide zu. Es ging aber nicht nur um die „Judenfrei-
haltung“ von Häusern und Wohngebieten, sondern auch um Vorbereitungsmaßnahmen
für die Deportation. Im Mittelpunkt der Überlegungen des Leiters der Wannseekonfe-
renz
583
, Reinhard Heydrich, standen
die besseren Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten, die
sich durch ein engeres Zusammenrücken der Juden ergaben. Ein Ghetto in Gestalt eines
ummauerten Straßenzuges oder Stadtteils lehnte er zwar ab, nannte es aber einen „ewigen
Schlupfwinkel“ für Verbrechen und Seuchen, der nur schwer zu überwachen sei. Mit dem Plan,
die Juden in bestimmten, verstreut liegenden Häusern zusammenzufassen, fand er jedoch einen
Mittelweg, auf dem – auch ohne die Bevölkerung mit der auffälligen Einrichtung eines Ghettos
zu konfrontieren – eine rationellere Überwachung der Juden verwirklicht werden konnte 
584
.
Gerhard Bosse, dessen Vater bei der Deutschen Bank als Bote beschäftigt war,
beschrieb mir die Lebensbedingungen der in den „Judenhäusern” dahinvegetierenden
Menschen. Seine Eltern wohnten im oberen Geschoss des Bankgebäudes in der Kom-
missstraße, unter ihnen hatte Bankdirektor Rhée gewohnt. Durch die fast familiäre
Beziehung zur jüdischen Familie Rhée hatten sie auch Kontakt zu anderen jüdischen
Familien. Die Häuser seien in einem desolaten Zustand gewesen. Jede Familie habe nur
ein Zimmer bewohnt.
Manche kamen abends im Schutz der Dunkelheit zu uns
.
Meine Mut-
ter besorgte ihnen Lebensmittel, Weißbrot und Gemüse.
Manchmal habe sie es hingebracht,
er sei dann zum Tragen mitgegangen. Kohlen hätten sich die alten und zum Teil gebrech-
lichen Leute selber vom Kohlenhändler holen müssen, mit einem Handwagen oder im
Winter auf einem Schlitten:
Einmal fehlten einer Frau, die einen Judenstern trug, 50 Pfen-
nig zum Bezahlen. Die Sekretärin war ein „Biest”. Sie
wollte die Kohlen nicht herausgeben.
Mein Vater kam zufällig dazu. Die Frau wandte sich an ihn: Sie sind meine letzte Rettung,
können sie mir mal 50 Pfg. vorstrecken? Mein Vater hat sich ein paar mal umgeschaut und
hat ihr geholfen. Wenn das jemand mitgekriegt hätte, wäre es ihm nicht gut ergangen.
Seine Mutter war Putzmacherin gewesen, handwerklich sehr geschickt – und hatte den
Juden, denen ja niemand etwas machte, geholfen.
Da musste mal Kleidung repariert werden
oder es gab etwas zu ändern. Eines Abends klingelte es. Es war Frau Pohly. Sie kam im Dunkeln
das Treppenhaus hoch zu uns. Die Wohnungstür schnell aufgemacht und in ein Nebenzimmer. Da
stand schon Frau Cohn, die hatte auch etwas. Als es dann hieß, sie kämen weg, wurden Sachen
dafür vorbereitet. Das waren ja mal gutbetuchte Leute. Die Männer trugen Hüte und keine Müt-
zen. Was sollten die dann im Winter in Polen mit Hüten anfangen? Sie brauchten also Mützen,
und die konnte man nur noch im „Braunen Laden” kaufen. Meine Mutter ist hingegangen. Sie
nahm ein paar Kleiderkarten mit und kaufte „Jungvolk-Mützen”. Die hat sie dann etwas geändert,
vor allem die Schnallen abgemacht und die Abzeichen. Sie durften keine Pelze mitnehmen. Meine
Mutter hat sie umgearbeitet und die Pelze nach innen genäht. Es kamen dann fast alle. Mein Vater
schwitzte Blut und Wasser. Er warnte meine Mutter und meine Tante: Passt bloß auf, wenn die
582
Buchholz, Marlis, Die hannoverschen Judenhäuser, Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisie-
rung und Verfolgung 1941 bis 1945, Hildesheim 1987, S. 4.
583
Auf der „Wannsee-Konferenz“ in Berlin am 20.1.1942 zwischen dem Chef der Sicherheitspolizei und des
SD, Reinhard Heydrich, und Vertretern von Ministerien, Parteidienststellen und SS-Ämtern wurde die
endgültige Deportation der Juden aus Europa in die Vernichtungslager beschlossen. Die „Wannsee-Kon-
ferenz“ gilt als der Beginn der „Endlösung der Judenfrage“, das heißt, die Ermordung von ca. 11 Millio-
nen Menschen. (Vgl. Zentner/Bedürftig, Lexikon, S. 619).
584
Buchholz, Judenhäuser, S. 15.