Seite 50 - Juedische_Familien

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euch schnappen, dann kommt
ihr auf dem letzten Transport
hinterher. Aber sie haben es
nicht gelassen, denn sie kann-
ten die Leute ja von klein auf.
Meinen Eltern war klar, dass
man sie entweder umbringen
oder so sehr bedrängen würde,
dass sie Schaden nehmen wer-
den. In welcher Weise, das
konnten sie sich nicht vorstel-
len 
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.
Die Wolfenbüttelerin
Elli Steinmann erinnerte sich
an den Abtransport von
Juden:
Jedenfalls wurden die
Juden eines Tages auf dem
Stadtmarkt zusammengetrie-
ben und mit gehaltenen Stri-
cken umzäunt. Danach sind
sie weggekommen. Uns hat
man gesagt, sie kommen nach
Lodz, nach Litzmannstadt. Da
haben sie eine ganze Stadt für
sich, denen passiert überhaupt
nicht. 
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Deportation und Beraubung
Nicht nur SA, SS, Gestapo 
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oder das Rassenpolitische Amt, nein, viele Institutionen
und Personen auf Reichs-, regionaler und kommunaler Ebene waren daran beteiligt,
den jüdischen Wolfenbüttelern nicht nur ihre Menschenwürde, sondern auch ihre Ver-
mögen und ihre Lebensgrundlagen zu nehmen: Juristen, Bankangestellte, Stadtange-
stellte, Finanzbeamte, Polizeibeamte, Gefängnisbeamte, Auktionatoren, Sachverstän-
dige, Fuhrunternehmer, Wolfenbütteler Bürger als Ersteigerer von „jüdischen“
Sachwerten
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, Beamte des Grundbuchamtes, Handwerker, Kauf leute und auch die
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Gespräch mit Gerhard Bosse und Ernst Kunkel, 28.3.1995.
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Gespräch mit Elli Steinmann am 8.3.1992. Dieses Erlebnis ist von anderen Zeitzeugen nicht berichtet worden.
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Die Rolle der Braunschweiger Gestapo bei der Verfolgung der Juden ist noch nicht erforscht. Das zustän-
dige Referat IIB unter der Leitung von Karl Macke befand sich seit April 1938 in der Leopoldstraße 24/25.
(vgl.: Wysocki, Gerhard, Die Geheime Staatspolizei im Land Braunschweig, Polizeirecht und Polizeipra-
xis im Nationalsozialismus, Frankfurt 1997, S. 89 f, S. 205).
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Eine sichtbare Verhaltensvielfalt offenbarte sich selbst bei einem Vorgang, der bislang – und zu Recht – als Verstric-
kung der Bevölkerung in die Vernichtungspolitik und Komplizenschaft mit dem Regime interpretiert wurde, nämlich
der öffentlichen Versteigerung des Besitzes deportierter Juden.
(Vgl. Kuller, Christiane, Erster Grundsatz: Horten
für die Reichsfinanzverwaltung, in: Die Deportation der Juden aus Deutschland, Pläne – Praxis – Reaktionen,
1938 – 1945, hg. v. Universität Konstanz, Göttingen 2004, S. 162.
Das Haus des Kaufmanns Hugo Groitzsch, umgewandelt in
eine Wohnstätte für zu deportierende Einwohner.