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Die überwiegende Mehrheit der Soldaten der Waffen-SS waren jedoch an der
Bewachung der Konzentrationslager und an den Mord-Aktionen der SS-Polizeiein-
heiten nicht beteiligt, sondern standen – überwiegend an strategischen „Brennpunk-
ten“ – im erbitterten Kampf an vorderster Front und hatten schwere Verluste an
Toten, Verwundeten und Vermissten zu beklagen. Selbst im Führerhauptquartier
war man wegen der relativ hohen Verluste der Waffen-SS beunruhigt. Diese kämp-
fenden SS-Truppen waren Soldaten, wie andere auch, wie Generaloberst Paul Haus-
ser es formuliert hat. Die Bundeskanzler Adenauer und Kohl haben diese Auffas-
sung weitestgehend akzeptiert (vgl. Anhang 7.1.9.1./2.) mit dem einschränkenden,
aber selbstverständlichen Hinweis: „Soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll
für Deutschland gekämpft haben.“
Nach meinem Verständnis ist die Frage, wie wir mit unserer Schuld und den
Verursachern umgehen sollten, auch ein religiöses Problem. Gleichfalls ist in diesem
Zusammenhang unsere Schuldverstrickung auch aus allgemeiner, politischer Sicht
von Bedeutung, wie die Auftritte der ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt und
Gerhard Schröder in Warschau und in Nordfrankreich gezeigt haben. Insoweit
besteht zwischen Kirche und Staat in der Behandlung und Lösung dieser Fragen
eine gewisse Konkurrenz. Während der Staat in der Regel bei der Behandlung der-
artiger Probleme pragmatische („beliebige“) Lösungen bevorzugt, ist die Kirche eher
ihrer Jahrhunderte alten Werteordnung verpflichtet und muss religiöse Begriffe wie
christliche Nächstenliebe, Vergebung, Beichte, Buße und Gnade in ihre Überlegun-
gen einbeziehen. Zur Sache können sich daher wegen dieser traditionellen Betrach-
tungsweisen durchaus unterschiedliche Antworten und Verhaltensweisen ergeben.
Willy Brandts Warschauer Kniefall am 7. Dezember 1970 war ja nicht nur ein
Zeichen der Demut und ein Bekenntnis zur geschichtlichen Verantwortung der
Bundesrepublik Deutschland, sondern auch eine Geste, die angesichts des Denkmals
für den Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahre 1943 insbesondere die Polen und
die Juden um Verzeihung und – unausgesprochen – auch um Vergebung bitten
wollte. Ähnliche Absichten gegenüber Frankreich verfolgte der ehemalige Bundes-
kanzler Gerhard Schröder, als er anlässlich der Feierlichkeiten zum Jubiläum des
Invasionstages im Juni 2004 den Soldatenfriedhof Ranville besuchte und das franzö-
sische Volk wegen der Verbrechen in Oradour und anderen Orten, um Entschuldi-
gung und Verzeihung bat. Der Präsident der Gedenkstätte Oradour, Jean-Claude
Peyronnet, hat den würdigen Auftritt des deutschen Bundeskanzlers mit Genugtu-
ung anerkannt. Er betonte in seiner Dankesrede: „Darauf hätten die Menschen in
Oradour lange gewartet. Ich bin sehr bewegt und im positiven Sinne sehr beein-
druckt.“
Zweifelsohne sind zahlreiche ehemalige SS- und Gestapoleute, die an Kriegsver-
brechen beteiligt gewesen sind, in der Nachkriegszeit uneinsichtig und verbittert
gestorben. Sie fühlten sich unschuldig und glaubten, sie hätten sich im Dienste für
das Vaterland stets gesetzestreu verhalten. Sie waren weit davon entfernt, ihre grau-
enhaften Verbrechen zu bekennen, zu bereuen oder gar zu beichten. Den Übergang
von der ordensähnlichen und elitären SS zum gewöhnlichen Normalverbraucher
haben sie mental nicht geschafft.
Zweifellos hat jedoch die Mehrheit der früheren SS- und Gestapoangehörigen
am Neuanfang und am Wiederaufbau nach dem Kriege teilgenommen, entweder
unerkannt oder nach einer kurzen Haftstrafe. In der Regel sind sie überzeugte und